Intuition und Emotion beim Urteilen und Entscheiden in Kontexten nachhaltiger Entwicklung
Junge Menschen sollen heute und in Zukunft schwerwiegende Gestaltungsprobleme lösen können: Klimawandel, Entscheidungen über die Risiken von Alltagstechnologien oder Begrenztheit natürlicher Ressourcen machen es erforderlich, über Gestaltungskompetenzen im Sinne einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BnE) zu verfügen. BnE ist aber kein Unterrichtsfach, sondern soll sowohl in formellen als auch in informellen Bildungssektoren relevant sein. Die Förderung sogenannter Bewertungskompetenz als Teil einer umfassenden Gestaltungskompetenz (de Haan, 2004) wird zum expliziten Ziel der naturwissenschaftlichen Fachdidaktiken. Die Binnenstruktur von Bewertungs- oder auch Urteilskompetenz ist aber noch nicht ausreichend durch empirische Forschung verstanden worden. Dies wäre aber eine Voraussetzung, um wirksame und forschungsbasierte Bildungsangebote machen zu können. Das Forschungsprojekt will einen namhaften Beitrag dazu leisten.
Bereits entwickelte Kompetenzmodelle, die das Konstrukt Bewertungskompetenz modellieren, gehen davon aus, dass Menschen selbst in Alltagssituationen vorrangig rational entscheiden. Dem entgegen stehen Erkenntnisse der Umwelt- und Entscheidungspsychologie, die von Zwei-Prozess-Modellen ausgehen: Menschen entscheiden nur in bestimmte Kontexten durch rationales Abwägen von Argumenten. Stattdessen fällen sie ihre Urteile häufig auf holistisch-intuitive Weise. Sie sind dabei von Emotionen geleitet und rechtfertigen die so gefällten Urteile bestenfalls post-hoc auf rationale Weise. Pädagogisch-didaktische Versuche der Förderung von Bewertungskompetenz müssten diesen Umstand konsequent berücksichtigen, um ihre Erfolgsaussichten zu maximieren. Es bedarf der forschungsbasierten Weiterentwicklung von Modellen der Bewertungskompetenz. Genau dies ist das Ziel des Projekts.
Im Promotionsprojekt soll ein heterogenes Sample von Schülerinnen und Schülern mit Dilemmata, die eine Entscheidung erforderlich machen, konfrontiert werden. Die Dilemmata werden in Form kurzer Audiovignetten präsentiert und sollen einen Nachhaltigkeitsbezug aufweisen. Die Kontexte der Dilemmata werden systematisch variiert, um entweder eher rationales oder eher intuitives Urteilen zu evozieren. Die Probandinnen und Probanden werden dabei ähnlich wie in klinischen Interviews dazu aufgefordert, ihre Gedanken und Gefühle fortwährend zu verbalisieren (lautes Denken). Das Datenmaterial wird zunächst mit Hilfe der Dokumentarischen Methode im Hinblick auf die Orientierungsrahmen der Probandinnen und Probanden analysiert, um die Binnenstruktur realer Urteilsprozesse zu rekonstruieren. Eine kategorienbasierte Auswertung kann ggf. angeschlossen werden. Auf der Basis dieser Analysen werden etablierte Kompetenzmodelle um Dimensionen und Ausprägungen ergänzt, die die Möglichkeit unterschiedlicher Typen des Urteilens und Entscheidens systematisch abbilden. Dieses neu entwickelte Modell soll sowohl Impulse zur weiteren Forschung im Bereich der naturwissenschaftlichen Bewertungskompetenz als auch zur weiteren Evidenz-basierten Unterrichtsentwicklung im Sinne einer BnE liefern.