Promotionsstipendium: Lieske Voget-Kleschin

StSP Umweltethik: Nachhaltige Ernährung? Suffizienz zwischen normativen und eudaimonistischen Fragen am Beispiel des Praxisfelds Ernährung

Nachhaltige Ernährung?

Sustainable Food Consumption?
Claims for Sustainable Lifestyles in between Normative and Eudaimonistic Issues
The Example of Food Production and Consumption

Suffizienz zwischen normativen und eudaimonistischen Fragen
am Beispiel des Praxisfelds Ernährung

Erläuterung und Relevanz der Fragestellung
Entwicklung ist nachhaltig, wenn sie gerecht ist gegenüber heutigen und zukünftigen Menschen. Forderungen nach nachhaltiger Entwicklung sind daher normative Forderungen. Meine Arbeit zeigt, dass nachhaltige Entwicklung nicht ohne Lebensstilveränderungen zu erreichen ist. Die meisten Menschen empfinden Lebensstilentscheidungen jedoch als individuelle, private Angelegenheit beziehungsweise in einem noch zu erläuternden Sinn als Fragen guten Lebens. In der Arbeit verorte ich Forderungen nach nachhaltigen Lebensstilen (Suffizienz) daher in einem Spannungsfeld zwischen normativen Fragen und Fragen guten Lebens. Vor diesem Hintergrund untersuche ich, ob und wie es im Rahmen einer normativen Konzeption von Nachhaltigkeit möglich ist, Forderungen nach nachhaltigen Lebensstilen zu begründen:
• Kapitel 1 entwickelt eine normative Konzeption von Nachhaltigkeit.
• Kapitel 2 verortet Forderungen nach nachhaltigen Lebensstilen im Rahmen dieser Konzeption und widerlegt gängige Einwände gegen solche Forderungen.
• Kapitel 3 zeigt, inwiefern die vorgestellte Konzeption von Nachhaltigkeit und nachhaltigen Lebensstilen Vorstellungen guten Lebens voraussetzt.
• Kapitel 4 wendet die theoretischen Überlegungen auf das Praxisfeld Ernährung an.
 

Kapitel I Nachhaltigkeit
Ich unterscheide in der Arbeit zwischen einem Konzept und verschiedenen Konzeptionen von Nachhaltigkeit: ein Konzept von Nachhaltigkeit umfasst die Fragen, auf die jede Konzeption eine Antwort geben muss, ohne dass das Konzept diese Antworten schon inhaltlich präjudiziert. Aufbauend auf der Brundtland-Definition schlage ich ein zweidimensionales Konzept von Nachhaltigkeit vor. Hinsichtlich der ersten ‚normativen Dimension‘ zeige ich, inwieweit der Fähigkeitenansatz geeignet ist, die im Konzept von Nachhaltigkeit vorausgesetzten Gerechtigkeitsforderungen zu spezifizieren. Hinsichtlich der zweiten ‚Dimension der Randbedingungen von Nachhaltigkeit‘ zeige ich, dass die Prämissen des Fähigkeitenansatzes nicht ausreichen, eine Konzeption von Natur- und Sozialkapital sowie deren Wechselbeziehungen zu spezifizieren. Aufbauend auf einer Konzeptionalisierung von Naturkapital im Rahmen einer Theorie der Fonds sowie von Wechselbeziehungen zwischen Natur- und Sozialkapital im Rahmen von (Re)Produktivität positioniere ich mich hinsichtlich starker Nachhaltigkeit und begründe eine Constant Natural Capital Rule, Management-Regeln und Leitlinien starker Nachhaltigkeit – unter anderem die Leitlinie der Suffizienz.

Kapitel II Nachhaltige Lebensstile – Suffizienz
Im Anschluss an das Menschenbild des Fähigkeitenansatzes lassen sich drei Ansätze nachhaltiger Lebensstile unterscheiden: Es ist erstens möglich, dass Individuen einen nachhaltigen Lebensstil wählen, weil dies ihren je eigenen Vorstellungen des Guten entspricht. Politische Maßnahmen können zweitens nachhaltige Lebensstile fordern und drittens solche Lebensstile fördern. Aus der Perspektive des politischen Liberalismus sollte sich der Staat möglichst neutral gegenüber verschiedenen Vorstellungen guten Lebens verhalten. Politische Maßnahmen, die Suffizienz fordern und fördern, sind jedoch insofern zulässig, als sie
• auf normativen Überlegungen beruhen, das heißt darin begründet sind, dass bestimmte Lebensstilentscheidungen nachweislich anderen schaden, und
• die Möglichkeit ihrer Adressaten gemäß einer je eigenen Vorstellung des Guten zu leben nicht über Gebühr einschränken.
 

Kapitel III Die Bedeutung von Vorstellungen guten Lebens für Nachhaltigkeit und nachhaltige Lebensstile
Sowohl die Bestimmung von Naturkapital als auch die Abgrenzung legitimer von illegitimen Suffizienz-Maßnahmen setzten mindestens implizit bestimmte Vorstellungen des Guten voraus. Dies berührt nicht die Priorität des Rechten vor dem Guten. Stattdessen ist zu unterscheiden zwischen umfassenden und ‚nicht umfassenden‘ Vorstellungen des Guten. Die in einer Konzeption von Nachhaltigkeit und nachhaltigen Lebensstilen vorausgesetzten Vorstellungen sollten ‚nicht umfassend‘ sein. Nussbaum präsentiert eine Liste von zehn Fähigkeiten, die sie als plausiblen Kandidaten für eine ‚nicht umfassende‘ Konzeption des Guten ansieht. Diese Liste ist jedoch nicht spezifisch genug, um Naturkapital abzugrenzen oder legitime von illegitimen Suffizienz-Maßnahmen zu unterscheiden. Sie bedarf der Spezifikation durch Deliberation. Damit rückt Nussbaums Position in die Nähe von Sen. Dieser vertritt die Auffassung, Auswahl und Gewichtung von Fähigkeiten sollten in Form öffentlicher, demokratischer Meinungsbildung erfolgen. Letztlich setzen sowohl Nussbaum als auch Sen deliberative Vorstellungen voraus, ohne diese hinreichend zu spezifizieren.
Hinsichtlich der Bestimmung von Naturkapital ist es im Anschluss an Nussbaum möglich, einen theoretisch fundierten, reichen Naturkapitalbegriff zu entwickeln. Dieser bleibt jedoch unterbestimmt. Im Anschluss an Sen sind jene Suffizienz-Maßnahmen als legitim anzusehen, die sich die Mitglieder einer Gesellschaft in demokratisch legitimierten Verfahren selbst auferlegen. Hinsichtlich der Qualifikation demokratischer Verfahren als legitim bleibt auch dieses Argument unterbestimmt.
 

Kapitel IV Nachhaltige Nahrungsmittelproduktion und Ernährung
Die meisten Menschen verstehen Ernährung als individuelle und private Angelegenheit. Gleichzeitig hat die Art, wie wir uns ernähren, sehr weitgehende Auswirkungen auf die Umwelt und die Bedingungen, unter denen Nahrungsmittel hergestellt werden. Ernährung stellt daher ein paradigmatisches Beispiel für die Spannung zwischen als individuell und privat empfundenen Lebensstilen einerseits und gesellschaftlichen, normativ relevanten Auswirkungen dieser Lebensstilentscheidungen andererseits dar.
In Kapitel IV wende ich die theoretischen Einsichten der ersten drei Kapitel auf das Praxisfeld Ernährung an. So wird deutlich, dass und inwiefern die entwickelte Position es trotz der in Kapitel III aufgezeigten offenen Fragen ermöglicht, konkrete und weitreichende Anforderungen hinsichtlich nachhaltiger Nahrungsmittelproduktion und Ernährung schlüssig zu begründen
 

AZ: 20007/942

Zeitraum

01.08.2008 - 31.08.2010

Institut

Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Institut für Botanik und Landschaftsökologie

Betreuer

Prof. Dr. Konrad Ott