Die Erzeugung elektrischer Energie aus Meeresströmungen mit Turbinen gehört zu den zukunftsweisenden Lösungen, um der Verschärfung des Klimaproblems infolge Treibhausgasemissionen von Kohle-, Öl- und Gaskraftwerken entgegenzuwirken. Die zur Energiegewinnung bislang am häufigsten untersuchten Meeresströmungen werden durch Gezeitenkräfte angetrieben. Dem gegenüber wurde das Energiepotenzial dichtegetriebener Strömungen bisher unterschätzt. Diese treten in Verbindungsstraßen zwischen Meeren mit unterschiedlichem Salzgehalt und unterschiedlicher Temperatur auf, z.B. in den Strassen von Gibraltar, Sunda, Bab al-Mandab (Golf von Aden) oder am Bosporus. Dabei werden Strömungsgeschwindigkeiten von saisonal bis zu 2,5 m/s erreicht.
Das vorgestellte Projekt zielte darauf ab, Strategien zur Erschließung des Energiepotenzials solcher Ströme zu entwickeln. Diese Strategien wurden zunächst am Beispiel des Bosporus zwischen dem Schwarzen Meer und dem Marmarameer konkretisiert und später verallgemeinert, um dann als Modell für Abschätzungen des Energiepotenzials dichtegetriebener Strömungen auch in ähnlichen Meerengen zu dienen.
Im vorgestellten Projekt wurden in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Yildiz-Universität (Istanbul) Messungen und Softwareentwicklung zur Verbesserung relevanter Modelle durchgeführt. Im Zielgebiet wurde eine von FTZ neu entwickelte Langzeit-Messstation betrieben, um in der gesamten Wassertiefe Zeitreihen wasserphysikalischer Parameter zu erfassen, die zur Steuerung eines verbesserten HN-3D-Modells dienten. Modellsimulationen wurden durchgeführt, um Energie-Hotspots in Strömungsfeldern zu identifizieren und die Dichteschichtung sowie die Varianz in der Tiefe und Intensität der Strömungen zu bestimmen. Energiepotentiale wurden aus diesen Simulationen berechnet. In das verbesserte HN-3D-Modell wurden virtuelle Turbinen eingesetzt, die Effizienz ihrer Anordnung getestet sowie Umwelteinflüsse simuliert und analysiert.
Ziel des Projekts war es, durch die Entwicklung neuer Werkzeuge und Methoden a) zur Erschließung des Energiepotenzials dichtegetriebener Ströme sowie b) einer begleitenden Umweltanalyse eine emissionsfreie Alternative zur Stromerzeugung mit fossilen Brennstoffen aufzuzeigen und mit deren Umsetzung zur Entlastung von Klima und Umwelt beizutragen. Darüber hinaus konnten mögliche negative Auswirkungen der Aufstellung und des Betriebs von Strömungsturbinen auf die Meeresumwelt untersucht und bewertet werden.
Im Folgenden werden Projektaktivitäten Schritt für Schritt erläutert und besprochen.
1) Erkundung und Zusammenstellung von Daten und Modellen [Monat 1-3]
Daten zur Bathymetrie (Topografie des Meeresgrunds) im Bosporus und den angrenzenden Meeren, zur Meteorologie, zu Wasserständen, Strömungen, Salzgehalt und Temperatur wurden von unseren türkischen Projektpartnern bereitgestellt. Die türkischen Partner stellten auch das HN-3D-Modell des Bosporus zur Verfügung, das sie entwickelt und in mehreren Forschungsprojekten verwendet haben. Das bereitgestellte Modell wurde als „Benchmark-Modell“ für die Entwicklung des detaillierteren HN-3D-Modells in unserem Projekt verwendet.
2) Einrichten der Messstationen im Zielgebiet und Naturmessungen [Monat 2-12]
Am südlichen Ende des Bosporus wurde eine Messstation eingerichtet, um Luftdruck und -temperatur, Wasserspiegelhöhen, Strömungsgeschwindigkeiten, Salzgehalt und Wassertemperatur zu messen. Die türkischen Projektpartner haben uns bei der Beantragung der erforderlichen Genehmigungen bei den türkischen Behörden sowie beim Auf- und Abbau der Messinstrumente unterstützt.
3) Optimierung des HN-3D-Strömungsmodells [Monat 3-7]
Um die horizontale Auflösung des Modells der türkischen Projektpartner zu verbessern und ohne dabei die Rechenzeit zu erhöhen, wurde die entwickelte Modellanordnung auf das Delft3D Modellierungssystem (Deltares, Niederlande) übertragen, welches besser für Hochleistungsberechnungen geeignet ist.
4) Langzeit-Modellsimulationen der Strömungsbedingungen [Monat 6-8]
Die Strömungsbedingungen im Bosporus wurden für den Zeitraum eines Jahres und in Abwesenheit von Turbinen simuliert.
5) Einpflegen virtueller Turbinen ins HN-3D-Modell und Simulationen [Monat 8-9]
Die Wechselwirkung zwischen den Turbinen und den Strömungen wurde mit dem Actuator-Disc-Ansatz simuliert, wobei sowohl schwimmende als auch am Meeresboden befestigte Turbinen mit unterschiedlichen Durchmessern und Array-Konfigurationen berücksichtigt wurden.
6) Zusammenstellung der Umweltdaten und Risikoeinschätzung [Monat 9-11]
Geschwindigkeitsdefizite und mögliche Umweltauswirkungen, die durch die Entnahme der hydrokinetischen Energie aus den oberen und unteren Strömungsschichten verursacht würden, wurden simuliert.
Die Projektergebnisse zeigen, dass die Bestimmung des optimalen Array-Standorts von entscheidender Bedeutung ist, um folgenreiche Änderungen der Strömungsbedingungen und der internen Wellen im Bosporus so gering wie möglich zu halten. Da die Umweltverschmutzung in den Meeren rund um Istanbul bereits heute ein großes Problem darstellt (Erturk & Erten, 2023; Orhon et al., 2021), könnte sich eine mögliche Änderung der Übertragungsdynamik von Wärme, Salz und Nährstoffen zwischen den benachbarten Meeren als großes Umweltrisiko für die Region erweisen. Daher sollten die Ergebnisse dieses Projekts von Forschern, Ingenieuren und politischen Entscheidungsträgern bei der Entwicklung erneuerbarer Meeresenergie in der Region berücksichtigt werden.
Die anderen potenziellen Umweltauswirkungen der MCT-Arrays am Bosporus, wie etwa Unterwasserlärm und Auswirkungen auf die Routen wandernder Arten, wurden während des gesamten Projekts berücksichtigt, erwiesen sich jedoch, wie bereits erwähnt, als nicht so bedeutend wie die oben diskutierten Auswirkungen. Aufgrund des bereits hohen Lärmpegels im Bosporus, der durch den industriellen und maritimen Betrieb verursacht wird, ist der potenzielle zusätzliche Lärm, der durch MCTs verursacht würde, vernachlässigbar. Wenn man überdies bedenkt, dass der für den Turbineneinsatz genutzte Anteil des Kanalquerschnitts durch die Tiefe der Strömungsschichten recht begrenzt ist, auf etwa max. 10-15 % des Kanalquerschnitts, dann sind keine signifikanten Auswirkungen auf die wandernden Arten, die durch den Bosporus schwimmen, zu erwarten. Dennoch sollten solche Probleme noch einmal detaillierter betrachtet werden, bevor man eine Turbine im Kanal installiert.
Das Projekt hat die gesetzten Ziele erreicht und neue Erkenntnisse zur Diversifizierung des Energieportfolios Istanbuls durch die Einbeziehung erneuerbarer Meeresenergie in den Mix geliefert. Anhand der Erkenntnisse werden die nächsten Schritte in der Forschung und Entwicklung erneuerbarer Meeresenergie in der Stadt entschieden.
Die tatsächlichen Projektkosten stimmen mit den Soll-Projektkosten überein.
Vorläufige Ergebnisse zu den möglichen Auswirkungen der MCTs auf die Strömungsbedingungen im Bosporus wurden im Rahmen des/der „10th Short Course/Conference on Applied Coastal Research“ vorgestellt, der/die im Sommer 2023 in Istanbul stattfand. Derzeit wird eine umfassendere Veröffentlichung zu diesem Thema für ein hochkarätiges Q1-Journal vorbereitet. Ein Konferenzbeitrag über die Verbesserungen der Modellleistung, insbesondere zur Vorhersage der Strömungen in der unteren Strömungsschicht, wird im Sommer 2024 in Rom auf der „38th International Conference on Coastal Engineering“, der renommiertesten Konferenz auf diesem Gebiet, präsentiert werden. Die im Rahmen des Projekts entwickelten Methoden und Werkzeuge werden in weiterer kollaborativer Forschungsarbeit nachgenutzt werden, die u.a. einen Leitfaden für die Analyse von Meerengen mit unterschiedlichen hydrologischen und meteorologischen Bedingungen entwickeln wird, um deren hydrokinetisches Leistungspotenzial bewerten und die Konfiguration und Lage von MCT-Arrays optimieren zu können. Die Erkenntnisse des Projekts werden auch in einem Workshop diskutiert werden, der im September 2024 in Büsum unter dem Motto „Engineering meets Ecosystem“ stattfinden wird.
Forschungs- und Technologiezentrum Westküste (FTZ)Christian-Albrechts-Universität zu KielYildiz Technical UniversityNachfolgend sind die wichtigsten Ergebnisse des Projekts aufgeführt:
1) Nachweis des erneuerbaren Energiepotenzials einer Meerenge ohne Gezeiten: Die Ergebnisse des Projekts können sich für Forschungs- und Ingenieuranwendungen in ähnlichen Bereichen als nützlich erweisen. Die Ergebnisse können auch eine Wissensbasis für die Nutzung von Energie aus größeren dichtegetriebenen Strömungen mit ähnlichen Eigenschaften liefern.
2) Verbesserung der Qualität der verfügbaren Messungen: Während für den Bosporus langfristige meteorologische Messungen sowie Messungen des Wasserstands und der Strömungsgeschwindigkeit problemlos verfügbar waren, waren Messungen des Salzgehalts und der Temperatur rar. Durch das Projekt wird die Wissensbasis und die Datenqualität bezüglich dieser Schlüsselparameter verbessert.
3) Erfassung der Beziehung zwischen MCTs und geschichteten Strömungen: Durch die im Projekt durchgeführten Messungen und Modellierungsarbeiten wird die Bedeutung der internen Wellen und der Tiefe der Strömungsschichten für die Nutzung der hydrokinetischen Energie aus geschichteten Meeresströmungen deutlich.
4) Ermittlung der möglichen Umweltauswirkungen der MCTs: Angesichts des möglichen Einflusses der MCTs auf Verschmutzungsmuster und Nährstoffdynamik im Bosporus und in den angrenzenden Meeren wird noch einmal die Bedeutung einer eingehenden Umweltverträglichkeitsprüfung vor dem Einsatz einer Turbine im Kanal betont.