Die Partner entwickelten von November 2010 an bis Frühjahr 2013 im Dialog mit Akteuren vor Ort verschiedene Szenarien für die Renaturierung der Unterems entwickeln. Als Unterems wird der von Ebbe und Flut beeinflusste Abschnitt der Ems zwischen Herbrum und Emden bezeichnet. Sie ist Teil des Emsästuars, welches sich insgesamt von Herbrum bis an die Nordsee bei Borkum erstreckt und auch den Dollart mit einschließt.
Der Renaturierungsbedarf der Unterems ist dringender denn je. In den letzten 25 Jahren wurde die Unterems zwischen Papenburg und Emden immer weiter und tiefer ausgebaggert. Dies geschah, um der Meyer Werft in Papenburg die Auslieferung immer größerer Kreuzfahrtschiffe zu ermöglichen. Sukzessive Vertiefungen und Begradigungen des Fahrwassers zusammen mit lang andauernden Baggerkampagnen zur Unterhaltung der Fahrwassertiefen haben in weniger als 20 Jahren zu einer massiven Verschlechterung der ökologischen Verhältnisse in der Unterems geführt. Auf Grund von Sauerstoffmangel können viele Monate im Jahr keine Fische mehr in der Unterems leben. Flusstypische Lebensräume gingen durch Uferbefestigungen, Baggern, Verschlickung und Absinken der Wasserstände in großem Umfang verloren.
Aus Sicht der Umweltverbände wäre eine Verlagerung der Werft an die Küste die ökologisch beste Lösung. Doch dieses Ziel ließ sich in der Vergangenheit politisch nicht durchsetzen. Aus diesem Grund sollen Renaturierungsmöglichkeiten unter den heutigen Rahmenbedingungen entwickelt werden. Um den lange währenden Konflikt zwischen der Zerstörung des Flusses und den wirtschaftlichen Belangen der Region endlich zu lösen, hatten die Umweltverbände daher den Bau eines Kanals von Leer bis Papenburg in Verbindung mit einer weitgehenden Renaturierung der Ems in diesem Bereich vorgeschlagen.
Das Vorhaben ist in vier Bausteine bzw. Teilprojekte untergliedert, die eng miteinander verbunden sind und aufeinander aufbauen:
Im Rahmen dieses Projekts untersuchen die Umweltverbände verschiedene Ansätze zur Sanierung der Gewässerökologie der Unterems. Alle untersuchten Ansätze gehen vorerst davon aus, dass die derzeit planfestgestellten Fahrwassertiefen in der Ems erhalten bleiben. Zu den Lösungsansätzen gehören folgende Szenarien:
A: Verflachung der Unterems zwischen Leer und Papenburg (Verlegung der Berufsschifffahrt auf einen Kanal auf einer Strecke von 14 Kilometern)
B: Verlängerung des Emsästuars durch den Abbau des Tidewehrs in Herbrum in Verbindung mit der Anlage von zwei Tidepoldern
C1-2: Anlage mehrerer Tidepolder und/oder Verbesserung der Hydromorphologie durch Rückdeichungen (> 50 % ästuartypische Lebensräume im Vorland, Entwicklung von Wiesenvogellebensräumen im Binnenland)
C3: Anbindung alter Flussschleifen und Wiederherstellung von Stromrinnen
D: Anlage mehrerer Tidepolder und/oder Verbesserung der Hydromorphologie durch Rückdeichungen (Erhalt der EU-Vogelschutzgebiete im Vorland, Entwicklung ästuartypischer Lebensräume in den geschaffenen Tidepoldern.
Das Szenario A „Sohlverflachung“ wurde im Rahmen des Projekts wegen der nicht vollständigen Erfüllung der im Projekt gesetzten Naturschutzziele nicht weiter verfolgt. Die Lösungsansätze „Ästuarverlängerung“ (Szenario B) und „Tidepolder“ (Szenarien C und D) haben im Rahmen der wasserbaulichen Analyse positive Wirkungen hinsichtlich der Hydrodynamik und des Schwebstoffhaushaltes gezeigt. Beide im Projekt entwickelten Ansätze wurden durch das Land Niedersachsen aufgegriffen und werden in leicht modifizierter bzw. optimierter Form im Rahmen der „Alternativenprüfung“ des Landes Niedersachsen zur Lösung der Schlick- und Sauerstoffprobleme weiter untersucht.
Als Arbeitsgrundlage haben die Umweltverbände am Anfang des Projekts im Teilprojekt Naturschutz in Zusammenarbeit mit regionalen Naturschützern folgende drei Naturschutzziele für die Unterems entwickelt:
1. Wiederherstellung einer Gewässergüte, die die Wiederansiedlung der für die Ems charakteristischen, aquatischen Lebensgemeinschaft ermöglicht.
2. Regeneration ästuariner Lebensräume an der Ems, um räumliche und funktionale Verluste der Vergangenheit zu kompensieren.
3. Sicherung der vorhandenen Wertigkeiten für Vögel; ggf. unter Nutzung von Binnendeichsflächen
Auf Grundlage der drei abgestimmten übergeordneten Naturschutzziele wurde dann ein Leitbild entwickelt:
Die Wasserqualität der Unterems ermöglicht trotz der Beibehaltung der derzeitigen schifffahrtlichen Nutzung ganzjährig das Vorkommen der naturraumtypischen aquatischen Fauna. Insbesondere Sauerstoff- und Schwebstoffkonzentrationen sowie Sohlsubstrate entsprechen weitgehend der naturraumtypischen Situation. Mehr als 50 % der aktuellen Vorlandfläche werden von ungenutzten ästuartypischen Lebensräumen gebildet, die die Lebensgrundlage für eine naturraumtypische Fauna bilden. Die weiteren Vorlandflächen bestehen weitgehend aus extensiv genutztem mesophilem bis feuchtem Grünland, das u. a. die Lebensgrundlage für die kulturraumtypische Avifaunagemeinschaft des Grünlands bildet.
Darauf aufbauend wurden drei Renaturierungsszenarien entwickelt, die das Leitbild jeweils mit unterschiedlichen Ansätzen zu realisieren versuchen. Für jedes der Szenarien wurden durch die unterschiedliche Kombination und v. a. Verortung von sieben zentralen Maßnahmentypen eine Maßnahmenkulissen entwickelt und in Karten veranschaulicht.
Szenario B: „Ästuarverlängerung“:
Das Szenario B umfasst den Rückbau des Wehrs in Herbrum und damit die Verschiebung der Tidegrenze bei Herbrum nach stromauf und die Anlage von zwei Tidepoldern
Szenario C: „Tidepolder – Wiesenvogelschutz binnendeichs“:
Szenario C umfasst v.a. die Anlage von 11 hydraulisch optimierten Tidepolder (Maßnahmentyp 1, siehe unten) binnendeichs entweder durch Herstellung eines verschließbaren Bauwerks im Hauptdeich mit flachem Ringdeich binnendeichs oder durch Rückdeichungen. Die Tidepolder sollen wasserbaulich v.a. zusätzliches Tidevolumen schaffen und dadurch die Tide-Asymmetrie partiell rückgängig machen und damit die Schwebstoffbelastung reduzieren.
Szenario D: „Tidepolder – Wiesenvogelschutz außendeichs“:
Das Szenario D folgt grundsätzlich dem gleichen Ansatz wie Szenario C: die Verbesserung der Wassergüte soll v.a. durch die Schaffung von Flutraum erfolgen. Die Tidepolder des Szenarios D liegen zwar auf den gleichen Flächen wie im Szenario C, jedoch werden die Polder ökologisch optimiert, damit sie gleichzeitig mehr zum zur Erreichung des Naturschutzziels zur Regeneration ästuariner Lebenszäume (Ziel 2) beitragen und damit den Konflikt zwischen der Entwicklung ästuartypischer Lebensräume und den Schutz vorhandener Wiesenvogellebensräume entschärft.
Die sieben zentralen Maßnahmentypen sind folgende:
1. Tidepolder hydraulisch / ökologisch optimiert mit / ohne Rückverlegung des Hauptdeichs
2. Revitalisierung von Nebenrinnen und Flussschlingen
3. Öffnung / Rückbau von Sommerdeichen
4. Extensivierung und Vernässung von tideoffenem Vorland (Ziel 3)
5. Entwicklung von Auwald, Röhricht, Watt und Flachwasserzonen im tideoffenen Vorland
6. Verbesserung der Durchgängigkeit
7. Rückbau von Uferbefestigungen mit Uferabflachungen
Als Reaktion auf das Kooperationsangebot und die Lösungsvorschläge der Umweltverbände hat das Land Niedersachen eine „Lenkungsgruppe Ems“ eingerichtet, in der die relevanten Akteure an der Unterems nach einer gemeinsam tragfähigen Lösung suchen sollen. Der Auftrag der „Lenkungsgruppe Ems“, die Machbarkeit eines Kanals parallel zur Ems zwischen Papenburg und Leer zu prüfen, wurde um die hydromorphologische Prüfung aller relevanten Vorschläge zur Lösung des Schlick- und Gewässergüteproblems mit demselben Modell und die Bewertung nach denselben Kriterien erweitert. Dieser Prüfauftrag unter Federführung des Landes Niedersachsen wird „Alternativenprüfung“ genannt. U. a. auf der Basis der Ergebnisse aus diesem Projekt haben die Umweltverbände die „Kanalidee“ zurückgezogen und dafür drei andere Renaturierungsvorschläge in die „Alternativenprüfung“ eingebracht. Insgesamt werden derzeit die folgenden Maßnahmen untersucht:
• Bau einer Sohlschwelle (WSD)
• Tidepolder/Retentionsräume (Verbände, WSD)
• Ästuarverlängerung: Abbau Tidewehr Herbrum mit ergänzenden Maßnahmen (Verbände)
• Polder an der Mündung (Verbände)Kombinationslösung
Ziel der Umweltverbände ist es, dass bei der Bewertung der Ergebnisse der „Alternativenprüfung“ nicht die ökonomischen Aspekte entscheidend sein werden, sondern dass die Erreichung der ökologischen Ziele gleichberechtigt berücksichtigt wird. Die Arbeiten und Ergebnisse aus diesem Projekt dienen der naturschutzfachlichen Begründung der Position der Umweltverbände. Im Rahmen des initiierten Kommunikationsprozesses in diesem Projekt sollen die Projektergebnisse sowie die naturschutzfachlichen Positionen mit den Naturschutzakteuren vor Ort weitgehend abgestimmt werden.
Im Rahmen des Projekts „Perspektive Lebendige Unterems“ ist deutlich geworden, dass die ökologischen Defizite in der Unterems und ihre Ursachen so tiefgreifend sind, dass die deutliche Verbesserung der ökologischen Situation voraussichtlich sehr umfangreiche Maßnahmen erfordert. Mit keinem der untersuchten Szenarien im Projekt war es möglich, das Schlick- und Sauerstoffproblem eindeutig zu lösen und die angestrebten Zielwerte kurzfristig zu erreichen. Entsprechend ist eine ökologische Lösung für die Unterems wahrscheinlich nur durch die Kombination verschiedener großer Maßnahmen zu erzielen. Insgesamt lassen sich die Anforderungen an ein Sanierungskonzept für die Unterems wie folgt zusammenfassen:
• Bereitschaft, Maßnahmen mit großem Raumbedarf umzusetzen (mehrere hundert ha Tidepolder)
• Entwicklung ästuartypischer Lebensräume (mindestens 380 ha)
• Erhalt der Ästuardynamik
• Schaffung eines großflächigen Wiesenvogelschutzgebiets im Binnenland von 350 – 500 ha
• Aufwertung bestehender Vogelschutzgebiete im Vorland