Auf Wildnisflächen kann sich die Natur vom Menschen weitgehend ungesteuert nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln. Wildnisflächen leisten dabei einen wichtigen Beitrag zum Schutz der biologischen Vielfalt, zum Klima- und Hochwasserschutz, zu Wissenschaft & Forschung sowie Bildung und Naturerleben. Neben natürlichen Lebensräumen kann Wildnis auch auf stark vom Menschen geprägten Flächen entstehen – wie bspw. ehemaligen Bergbau- & Militärflächen.
Damit sich natürliche Prozesse wirksam entfalten können & Konflikte mit angrenzenden Flächen minimiert werden, bedarf es möglichst großer & zusammenhängender Gebiete. Als Untergrenze für großflächige Wildnisgebiete haben Bund & Länder einen Flächenumfang von 1.000 ha definiert (bei Auen, Mooren, Küsten & Seen 500 ha). Mit der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt (NBS) aus dem Jahr 2007 hat sich die Bundesregierung das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2020 auf mindestens 2 % der Landesfläche Deutschlands möglichst großflächige Wildnisgebiete zu schaffen („2%-Wildnisziel“). Eine Konkretisierung dieses Ziels findet sich in der neuen NBS 2030 wieder.
Im Zuge der Umsetzung der NBS, der Erreichung des Zieljahres 2020 & der immer größeren Wahrnehmung des Wildnisziels in der Öffentlichkeit stellte sich immer wieder die Frage: Wie viele großflächige Wildnisgebiete gibt es derzeit in Deutschland? Schätzungen aus dem Jahr 2016 gingen davon aus, dass bis dato auf rund 0,6 % der deutschen Landfläche (perspektivisch) großflächige Wildnisgebiete existierten.
Die Heinz Sielmann Stiftung, die Naturstiftung David & die Zoologische Gesellschaft Frankfurt haben deshalb aus der Initiative „Wildnis in Deutschland“ („InWiD“) heraus im Jahr 2021 das Projekt „Bilanzierung großflächiger Wildnisgebiete in Deutschland“ angestoßen. Das Projekt bilanzierte erstmals alle bestehenden & zukünftigen Wildnisgebiete auf Grundlage der „Qualitätskriterien zur Auswahl von großflächigen Wildnisgebieten in Deutschland im Sinne des 2 %-Ziels der Nationalen Biodiversitätsstrategie“ („Bund-Länder-Qualitätskriterien“, BMU/BfN 2018) sowie der „Bemessung von Zerschneidung und Barrierewirkung in Wildnisgebieten“ („Zerschneidungspapier“, BfN 2024). Neben der Analyse bestehender & konkret geplanter Gebiete erfolgte zusätzlich eine Potenzialrecherche zukünftiger Wildnisgebiete. Übergeordnetes Ziel war es, konkrete Wege zu mehr großflächigen Wildnisgebieten in Deutschland aufzuzeigen & auch das Bewusstsein sowie die Notwendigkeit für diese zu schärfen.
1. Festlegung der Kriterien
Grundlage der Auswertungen von Gebietekandidaten bildeten die Bund-Länder-Qualitätskriterien sowie die "Bemessung von Zerschneidung und Barrierewirkungen in Wildnisgebieten" (s.o.). Parallel erfolgte ein Abgleich mit den Positionen der InWiD, die im Bereich „Wildtiermanagement“ und „Neobiota“ strenger ausgelegt sind.
2. Recherche Wildnisgebiete
Bundesweit wurden bestehende und zukünftig, geplanten Wildnisgebiete recherchiert. Analog der Bund-Länder-Qualitätskriterien wurden Informationen zu den einzelnen Gebieten sowie die Abgrenzungen als Shape-Datei angefragt. Da eine bundesweite, flächenscharfe Recher-che der theoretischen Potenzialgebiete nicht möglich war, wurde auf Grundlage ausgewählter Länder-Potenzialstudien das Potenzial für das Bundesgebiet hochgerechnet.
3. Auswertungen
In Excel erfolgte ein Abgleich der Informationen zu jedem Gebiet mit den Bund-Länder-Qualitätskriterien. Der Fokus lag hier auf den bestehenden und zukünftigen Wildnisgebieten, kurzfristig (s.u.) – da für diese Gebiete ausreichende Sachdaten vorlagen. In QGIS wurden u.a. die Kriterien des Zerschneidungspapiers sowie Hinweise auf mögliche Flächenerweite-rungen überprüft. Zudem erfolgte für ausgewählte Gebiete eine Dichteanalyse der linearen Infrastrukturelemente analog des Zerschneidungspapiers durchgeführt.
4. Einordnung in Flächenkategorien
Die analysierten Gebiete wurden folgenden Flächenkategorien zugeordnet:
1) Bestehende Wildnisgebiete: gesicherte Gebiete, die den Qualitätskriterien entsprechen
2) Zukünftig, geplante Wildnisgebiete: Gebiete die noch nicht gesichert sind, für die aber eine Absichtserklärung des Flächeneigentümers vorliegt, das Gebiet zu einem Wildnisge-biet zu entwickeln
a. kurzfristige Umsetzung: Umsetzung voraussichtlich innerhalb der nächsten 10 Jahre
b. langfristige Umsetzung: Umsetzung länger als 10 Jahre, z. B. aufgrund noch laufender Planungen
3) Theoretisches Potenzial (Hochrechnung): theoretische Zahl, bezieht sich nicht auf konkrete Gebiete, Grundlage: ausgewählte Länder-Potenzialstudien
5. Bilanz
Anschließend wurde eine Soll-Ist-Analyse in Bezug auf das 2%-Wildnisziel durchgeführt. Als Referenzfläche wurde die Landfläche Deutschlands genutzt, die mithilfe der frei verfügbaren CORINE Land-Cover Daten ermittelt wurde.
6. Standard-Entwicklung
Aus den Erkenntnissen des Projektes erfolgte schließlich die Entwicklung eines Recherche-Akquise-Standards (RABS) zur Analyse künftiger Kandidaten für Wild
Zum Stand November 2024 sind in Deutschland 0,62 % der terrestrischen Landesfläche bestehende Wildnisgebiete. Die Fläche verteilt sich dabei auf insgesamt 77 Gebiete. Von den 77 Gebieten sind acht Gebiete auf über 75 % ihrer Fläche jagdfrei und entsprechen somit zusätzlich den (strengeren) Kriterien der Initiative „Wildnis in Deutschland“. Diese acht Gebiete machen 0,14 % der Landfläche Deutschlands aus. Weitere 0,03 % der terrestrischen Landesfläche sind zukünftige, kurzfristig zu realisierende Wildnisgebiete (9 Gebiete) und 0,08 % sind zukünftige, langfristig zu etablierende Wildnisgebiete (17 Gebiete und 10 Arrondierungsflächen). Hinzu kommen 1,67 % der terrestrischen Landesfläche, auf denen laut Hochrechnung theoretisch Wildnis möglich wäre. Dadurch ergibt sich eine Summe von 2,40 % der Landfläche Deutschlands.
Die Lage, Flächengrößen und Sachinformationen zu den einzelnen bestehenden Wildnisgebieten sowie zu den zukünftigen, geplanten Wildnisgebieten (kurzfristig) sind auf der Website der Initiative „Wildnis in Deutschland“ aufrufbar "Gebiete", s. Link).
Die Flächengröße der bestehenden Wildnisgebiete liegt zwischen 168,6 ha (BR Mittelelbe, Kernzone Crassensee) bis hin zu 26.854,4 ha (NLP Müritz, Kernzone und Entwicklungszone unter Prozessschutz). Insgesamt sind 30 der 77 bestehenden Wildnisgebiete kleiner als 500 ha. Dies ist auf die hohe Anzahl an Kernzonen in Biosphärenreservat zurückzuführen. Aufgrund der geringen Größe machen sie jedoch nur 4,3 % der Gesamtfläche der bestehenden Wildnisgebiete aus.
Laut den Bund-Länder-Qualitätskriterien sollen „als Wildnisgebiet vorrangig Flächen im Eigentum der öffentlichen Hand, öffentlich-rechtlicher oder privater Naturschutzorganisationen und / oder des Nationalen Naturerbes eingerichtet werden“ (BMU/BfN 2018). Dies zeigt sich auch in den Eigentumsverhältnissen der bestehenden Wildnisgebiete. Ein Großteil ist im Eigentum der jeweiligen Bundesländer (76 %), gefolgt von Stiftungsflächen (9,4 %) und Bundesflächen (8,9 %).
Weitere Analysen und die Diskussion sind dem Projektbericht (s. Link) zu entnehmen.
Bei der regelmäßig stattfindenden Tagung „Wildnis im Dialog“ wurden dem Fachpublikum Zwischen- und Endergebnisse vorgestellt. Hierbei wurden auch konkrete Fragen zur Anwendung der Qualitätskriterien für Wildnisgebiete diskutiert und Lösungsansätze entwickelt.
Als ein Ergebnis des Projektes werden alle erfassten bestehenden Wildnisgebiete und zukünftigen, geplanten Wildnisgebiete (kurzfristig) auf der Website der Initiative „Wildnis in Deutschland“ einzeln mit Steckbriefen und auf einer deutschlandweiten Karte dargestellt. Die Seite wird regelmäßig um neue Wildnisgebiete ergänzt.
Zum Abschluss des Projektes fand ein Pressegespräch mit ausgewählten Medienvertretern im 2023 gegründeten Wildnisbüro in Berlin statt (s. Link). Dabei wurde die Bedeutung von Wildnisgebieten deutlich gemacht, sowie die durch die Studie erarbeiteten Fakten vorgestellt. Infolge des Pressegesprächs gab es eine umfangreiche Berichterstattung zum Thema „Zwei-Prozent-Wildnisziel“. Zudem wurden die Ergebnisse über die Kommunikationskanäle der 21 Mitgliedsorganisationen der Initiative „Wildnis in Deutschland“ präsentiert.
Weiterhin ist eine Publikation in einer Fachzeitschrift geplant.
Um das ambitionierte Ziel von 2 % großflächiger Wildnisgebiete zu erreichen, sind in den nächsten Jahren vielfältige Schritte erforderlich. Für die Zielerreichung sind vor allem sehr große Wildnisgebiete nötig. Auch wenn die Etablierung neuer Nationalparke in Schleswig-Holstein & Nordrhein-Westfalen (vorerst) gescheitert ist, sollte dieser Ansatz nicht aufgegeben werden. Ein weiteres Potenzial für neue großflächige Wildnisgebiete wird in den Bergbaufolgelandschaften sowie im Hochgebirge (Höhenlagen der Alpen) gesehen. Darüber hinaus sollte das Augenmerk auch auf der Arrondierung bestehender Prozessschutzflächen liegen. Um diese Schritte auch umzusetzen, stehen mit dem Wildnisfonds, dem Aktionsprogramm KlimaWildnis sowie dem Wildnisbüro & der KlimaWildnisZentrale sowohl Finanzierungsmöglichkeiten als auch fachliche Ansprechpartner zur Verfügung.
Wichtig ist zudem die fortlaufende Aktualisierung der Daten. Um regelmäßig ein Update zum Stand der Erreichung des 2%-Wildnisziels geben zu können, sollten die Wildnis(potenzial)gebiete auf Basis des nun vorhandenen Datenmaterials stetig überprüft, neue Gebiete aufgenommen & die Datenlage weiterhin verdichtet werden.
Wenn Bund, Länder sowie beteiligte Akteure das identifizierte Potenzial nutzen & weitere Wildnisgebiete langfristig sichern, ist dies ein Gewinn für Mensch und Natur. Denn großflächige Landschaften, in denen allein die Natur Regie führt, sind in Zeiten von Artensterben, Klimawandel & Pandemien von elementarer Bedeutung.