Berlin. Fledermäuse und Laufkäfer, Flechten, Moose und viele andere Pflanzen sind hier Zuhause: Auf einem der größten jüdischen Friedhöfe Europas im Berliner Ortsteil Weißensee ist die Natur auf dem Vormarsch. Wo Publizist Theodor Wolff und Verleger Samuel Fischer ihre letzte Ruhe fanden, sprießen Efeu und Farne aus der Erde. Auf den Grabsteinen bilden Flechten und Moose grüne Schichten, Vögel hinterlassen ihre Spuren. Was für Naturliebhaber ein schützenswerter Lebensraum ist, ist für viele andere der Verfall eines national bedeutenden Denkmals. Forscher der Technischen Universität (TU) Berlin wollen nun Wege aufdecken, wie Natur- und Denkmalschutz sinnvoll miteinander verknüpft werden können. In einem Modell-Projekt sammeln sie Daten über die vorkommenden Pflanzen- und Tierarten und den Zustand der Grabfelder. Daraus entwickeln sie ein Leitbild zur Pflege des 42 Hektar großen Friedhofareals. Die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU) unterstützt das Vorhaben mit rund 310.000 Euro.
Wo Wurzeln ihren Weg graben, enstehen Schäden an Grabmalen
„Der Jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee ist nicht nur national ein bedeutendes Kulturdenkmal, er ist auch im Gespräch für die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes. Der Interessenkonflikt zwischen Natur- und Denkmalschutz wird hier besonders deutlich: Die historisch bedingte mangelnde Pflege hat aus diesem geschichtsträchtigen Ort einen wertvollen Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten gemacht. Wir wollen einen Weg finden, beides zu erhalten“, erläutert Dr.-Ing. E. h. Fritz Brickwedde, Generalsekretär der DBU, das Engagement der Stiftung. Wo Wurzeln sich ihren Weg graben, entstünden häufig Schäden an Grabmalen. Man müsse sorgfältig abwägen, welche Lebensräume und Strukturen besonders schützenswert seien. Das könne nur mit Hilfe einer wissenschaftlich fundierten und umfassenden Bestandsaufnahme geschehen, so Brickwedde.
115.000 Grabstellen zwischen Alleen mit Gesamtlänge von 14 Kilometern
Seit den 1970er Jahren steht der Friedhof unter Denkmalschutz. Zwischen seinen Alleen mit einer Gesamtlänge von 14 Kilometern sind 115.000 Grabstellen erhalten. Die Mehrheit der Gräber wird nur notdürftig gepflegt, da infolge des Holocaust häufig keine Nachfahren mehr da sind, die sich darum kümmern könnten. Dem jüdischen Glauben gemäß bestehen die Grabstätten für die Ewigkeit und werden nicht neu belegt. „Für das Ökosystem Friedhof und die Pflege der denkmalgeschützten Gräber hat das Projekt einen hohen praktischen Nutzen, da die Friedhofsverwaltung intensiv in die Untersuchung einbezogen wird“, erklärt Brickwedde. Das zukünftige Vorgehen der Verwaltung müsse sich an der Sicherheit für Denkmale und Besucher orientieren. Dabei dürfe der Schutz der Natur aber nicht zu kurz kommen.
Wissenschaftler übertragen Tier- und Pflanzenarten in ein GIS
Prof. Dr. Ingo Kowarik vom Fachgebiet Ökosystemkunde/Pflanzenökologie der TU Berlin hat als Projektverantwortlicher ein Team von Wissenschaftlern um sich geschart, das die Vorkommen von Tier- und Pflanzenarten auf dem Friedhof katalogisiert und in ein Geographisches Informationssystem (GIS) einpflegt. Die Kartierung soll dazu dienen, besonders wertvolle Lebensräume und Einzelstrukturen herauszustellen. „Wir wollen in verschiedenen Pflege-Szenarien deutlich machen, wie auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee Natur- und Denkmalschutz verbunden werden können. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, wie der Gehölzaufwuchs die Grabstellen beeinflusst oder mit welchen Maßnahmen Zeugnisse der Natur und der Kultur gleichermaßen bewahrt werden können. Die Ergebnisse des Projekts werden in einem Arbeitskreis mit der Jüdischen Gemeinde, der Friedhofsverwaltung, den Fachbehörden für Denkmalpflege und Naturschutz, Verbänden und weiteren Interessenvertretern vorgestellt und in einen Arbeitsplan umgesetzt“, erklärt Kowarik.
"Potenzial, anderen Friedhofsverwaltungen ein Beispiel zu geben"
Brickwedde: „Als kulturhistorisches Denkmal hat der Jüdische Friedhof Berlin-Weißensee eine besondere Strahlkraft und damit weit über die Grenzen Berlins hinaus das Potenzial, anderen Friedhofsverwaltungen ein Beispiel zu geben.“ Dem Ziel, UNESCO-Weltkulturerbe zu werden, komme der Friedhof damit möglicherweise ein Stück näher: Das Projekt stehe mit seiner Ausrichtung ganz im Zeichen der Welterbe-Konvention, die ebenfalls Umweltschutz und Denkmalpflege miteinander in Einklang bringen will.
Ansprechpartner für Fragen zum Projekt (AZ 29773): Prof. Dr. Ingo Kowarik, Ökosystemkunde/Pflanzenökologie Technische Universität (TU) Berlin, Telefon 030/31471372, Telefax 030/31471355