Osnabrück/Santa Barbara, USA. Am 26. Oktober erhält Prof. Dr. Erst Ulrich von Weizsäcker (69), Dekan der Donald Bren School für Umweltwissenschaft und -management der Universität Kalifornien in Santa Barbara, den Deutschen Umweltpreis 2008 der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU). Zusammen mit dem Gründer des mittelständischen Biotech-Unternehmens BRAIN AG, Dr. Holger Zinke (45), bekommt er den insgesamt mit 500.000 Euro höchstdotierten Umweltpreis Europas von Bundespräsident Horst Köhler in der Rostocker Stadthalle überreicht. Von Weizsäcker wird geehrt, weil er seit Jahrzehnten hervorragende Überzeugungsarbeit weltweit für nachhaltiges Wirtschaften in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft leistet. Die DBU hat mit ihm gesprochen, nachdem er gerade von seiner bevorstehenden Auszeichnung erfahren hat.
DBU: Herr von Weizsäcker, soeben haben Sie erfahren, dass Sie den Deutschen Umweltpreises 2008 bekommen. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
von Weizsäcker: „Das ist die Krönung meiner umweltpolitischen Laufbahn.“
DBU: Sie haben in den 90er Jahren das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie maßgeblich mit aufgebaut, waren anschließend im Deutschen Bundestag und sind 2005 nach Kalifornien aufgebrochen, um an der Universität in Santa Barbara das in den USA seltene Fach Umweltwissenschaften zu lehren. Weshalb dorthin?
von Weizsäcker: „In Sachen Umweltwissenschaften, insbesondere in Naturschutzwissenschaften, ist Amerika führend – vor Deutschland. Es ist nicht so, dass das ein Entwicklungsland wäre. Was hier nicht funktioniert hat, ist die Umweltpolitik der letzten 25 Jahre. Und das ist in den deutschen Medien angekommen. Insbesondere das Weiße Haus hat sich einfach konsequent – solange Republikaner dort waren – dem Klimaschutz verweigert und in Sachen Umweltschutz den Rückwärtsgang eingelegt. An den Universitäten gibt es ein äußerst lebendiges und hoch qualifiziertes Arbeiten, Studieren und wissenschaftliches Publizieren.“
DBU: War das ein Ziel von Ihnen, dieses wissenschaftliche Arbeiten stärker in die angewandte Politik zu bringen?
von Weizsäcker: „Ein Ausländer darf sich hier nicht in die amerikanische Politik einmischen. Aber als ich an diese exzellente Donald Bren Umwelthochschule kam – sie ist eine Elite-Einrichtung für Umweltwissenschaften, Naturschutzwissenschaften, Umweltökonomie – gab es sechs Spezialisierungen für unsere graduierten Studenten. Darunter war nichts mit Klima und Energie. Ich habe mich dafür eingesetzt und einen entsprechenden Fakultätsbeschluss herbeigeführt, Klima und Energie als Spezialisierung demnächst mit anzubieten. Nur bei dem Qualitätsstandard, den man hier natürlich hat, geht das nicht über Nacht. Das wird hier erst nach meinem Ausscheiden Wirklichkeit werden.“
DBU: Sie verlassen die Bren School?
von Weizsäcker: „Ich hatte meinen Freunden in Kalifornien von vornherein gesagt, ich mache das für drei Jahre – und dabei bleibe ich auch. An und für sich habe ich einen Vertrag über fünf Jahre, den könnte ich auch auf zehn Jahre verlängern. Aber ich habe gesagt, ich mache das drei Jahre, dann bin ich wieder zurück in Deutschland. Das ist meine Heimat, da lebt meine Familie. Von da aus kann ich am besten operieren.“
DBU: Was hat sich an der Bren School verändert, seit Sie dort Dekan sind?
von Weizsäcker: „Ein paar Detailkorrekturen habe ich hier sehr wohl angepackt, auch die Entwicklung der Ressourcenproduktivität, was in Deutschland längst bekannt ist. In Amerika war es bisher noch völlig unterbelichtet. Neben der Spezialisierungsmöglichkeit Klima und Energie haben wir einen neuen Lehrstuhl für Energie und Ressourcenproduktivität eingerichtet. Auf der finanziellen Seite haben wir circa 10 Millionen US-Dollar eingeworben. Das ist nicht wenig für so eine kleine Schule! Damit haben wir ein Programm zum Anwerben höchst qualifizierter Gastwissenschaftler in Sachen Klima gemacht. Man kann insgesamt sagen, dass die Schule besser in den Campus integriert ist und besser dasteht als vor drei Jahren.“
DBU: Vor mehr als zehn Jahren haben Sie in ihrem Buch „Faktor Vier“ vorgerechnet, wie wir mit halbiertem Naturverbrauch doppelten Wohlstand erreichen können. Nächstes Jahr erscheint „Faktor Fünf“ – eine neue Rechnung?
von Weizsäcker: „Faktor Vier ist jetzt fast 15 Jahre alt. Es war im Wesentlichen die Vorstellung von Einzeltechnologien. Mein großartiger Co-Autor Amory Lovins hat sehr viel dazu beigetragen. Faktor Fünf wird sich von Faktor Vier in mehreren Hinsichten unterscheiden. Einmal ist es sehr viel stärker auf Asien ausgerichtet, wo heute die Musik spielt. Wir haben chinesische Beispiele – vermutlich gibt es ein Kapitel über China. Dann haben wir eine stärkere Betonung von Systemverbesserungen anstelle von Einzeltechnologien. Ein Beispiel: ersetzt man klassische Glühbirnen durch lichtelektrische Dioden, kurz LED, gewinnt man Faktor Zehn Lichtausbeute pro Kilowattstunde. Das ist aber immer noch nicht gut genug! Man kann auch die Architektur von Gebäuden so gestalten, dass man viel weniger künstliches Licht braucht. Das ist dann eine Systemverbesserung. In der Transportlogistik ist noch viel möglich: Da gab es die schöne Studie von Stefanie Böge, dass Lastwagen ungefähr 8.000 Kilometer kreuz und quer durch Europa fahren, bis ein Erdbeerjoghurt auf dem Frühstückstisch steht. Wenn man den Transport auf ein Zehntel reduziert, schmeckt der Joghurt überhaupt nicht schlechter, und es wird sehr viel weniger auf den Straßen herumgekurvt.“
DBU: Welcher Technologie trauen Sie denn am meisten Effizienzsteigerung zu?
von Weizsäcker: „Nicht so sehr einzelnen Technologien – sondern das ganze System muss besser werden! Das ist die Philosophie von Faktor Fünf – ähnlich wie bei der Arbeitsproduktivität. Natürlich kann man sagen: Die Arbeitsproduktivität ist durch die Dampfmaschine von James Watt vor 200 Jahren verbessert worden – vollkommen richtig. Aber deswegen sind wir doch kein Dampfmaschinen-Land geworden. Es war ein Schritt von tausenden zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität. So ähnlich ist es mit der Energie- und Ressourcenproduktivität. Die lichtelektrischen Dioden sind eine Technologie – in diesem Fall ist es die Beleuchtung. Das ist etwas Großartiges – aber deswegen werden wir Deutschen ja nicht ein LED-Land. Sondern wir wollen insgesamt ein sehr viel eleganteres Land werden, zum Teil mit sehr viel kürzeren Wegentfernungen für Güter und auch für Menschen, zum Teil mit sehr viel effizienteren Verkehrsmitteln, zum Teil mit Ersatz des Verkehrs durch Videokonferenzen. Ich habe neulich an einer Videokonferenz teilgenommen, da war an beiden Enden – über den Atlantik hinweg – ein halbrunder Tisch. Man saß sich sozusagen gegenüber an einem ganz runden Tisch. Auf der einen Seite saßen die Leute in der Schweiz, auf der anderen Seite saßen die Leute in New York. Das war eine perfekt organisierte Konferenz. Man hat wahnsinnig viele Flugmeilen gespart. Das ist auch eine Systemverbesserung. So stelle ich mir vor, dass der Organismus Deutschland die Schlacke der Energieverschwendung zum großen Teil rauswerfen kann, und dann Atomreaktoren abschalten und Kohlekraftwerke ausmustern kann – all dies gemeinsam mit einer Erhöhung der Lebensqualität und der ökonomischen Kraft.“
DBU: Energie ist gerade in letzten Jahren sehr teuer geworden. Ist sie für Ihren Geschmack noch zu billig?
von Weizsäcker: „Jeder Schock beim Energiepreis ist schlecht für die Wirtschaft – das hat die Welt in den 70er Jahren schmerzlich erfahren, und jetzt auch wieder. Aber die Gegenmedizin ist nicht ein krampfhaftes Niedrighalten von Energiepreisen, sondern Stetigkeit. Auch zu niedrige Energiepreise wirken negativ. In den 80er Jahren, als die Öl- und Energiepreise purzelten, hat Amerika genau die falsche Schlussfolgerung gezogen. Man hat eine neue Autoflotte gebaut, bei der es auf den Spritverbrauch fast nicht mehr ankam: die Sport-Utility-Vehicles – kurz SUVs. Man hat riesige Räume rings um die Städte in Siedlungsraum verwandelt, so dass die Pendlerentfernungen von zehn auf 20, 30 oder 50 Kilometer anstiegen – weil die Energie fast nichts kostete. Das ist letztlich der Hintergrund für die heutige Finanzkrise! Nachdem dann plötzlich die Energiepreise angestiegen sind, verloren die auf Pump jottwede gebauten Häuser stark an Wert, die Hypotheken waren nicht mehr gesichert, und die ganze Finanzbranche kam ins Trudeln. Europa war da viel vernünftiger. Energie blieb relativ teuer und Benzin wurde überall besteuert. Die Pendlerentfernungen sind längst nicht so angestiegen. Dadurch ist hier der Schock viel geringer.
Mir tun natürlich die betrogenen Amerikaner leid. Aber den Fehler von damals darf man nicht wieder machen. Wir sollten jetzt möglichst weltweit dafür sorgen, dass die Energie langsam, systematisch jedes Jahr ein bisschen teurer wird, am besten um so viele Prozent wie die Energieproduktivität im Vorjahr angestiegen ist. Dann gibt es definitionsgemäß kein zusätzliches Leiden und dennoch einen sehr starken Anreiz, um die Energieeffizienz und -produktivität langfristig zu verbessern!“
DBU: Sie beraten Führungskräfte in der Wirtschaft und Regierungen – beispielsweise die chinesische. Was sind heutzutage die Hauptprobleme?
von Weizsäcker: „Je nach Kontext sehr unterschiedlich. China hat völlig andere Probleme als ein schweizerischer Versicherungskonzern. Eine Frage, auf die ich mich ein bisschen konzentriert habe und die mit dem Stichwort ‚Faktor Fünf’ ganz gut angedeutet ist, ist: Wie können Länder und Firmen es schaffen, die Technologie des 21. Jahrhunderts zu entwickeln und zu erproben, um aus der Dinosaurierwelt – in der wir gegenwärtig immer noch leben – rasch genug mit Profit herauszukommen? Bei den Chinesen ist wahrscheinlich die Erhöhung der Energieproduktivität mit Abstand das Wichtigste. Für internationale Konzernen ist sehr wichtig, die Glaubwürdigkeit gegenüber den Konsumenten und den Mitarbeitern zu wahren und zu stärken. Auch das hängt mit ökologischen Fragen zusammen. Neben diesen ist mir wichtig, dass die in den 90er Jahren grassierende Mentalität überwunden wird, dass der Staat abgedankt hat und dass nur noch die Finanzmärkte das Geschehen bestimmen. Nach der gegenwärtigen Wallstreet-Krise hat das inzwischen wohl auch der Letzte kapiert, dass das ein riesiges Missverständnis war und dass man dringend einen handlungsfähigen Staat braucht! Das sind Themen, die mich in den letzten 15 Jahren immer wieder berührt haben, beispielsweise im Bundestag als Vorsitzender der Kommission Globalisierung. Letztendlich findet Beratung immer im Konkreten statt – da kommt man mit allgemeinen Sätzen nicht weiter.“
DBU: Wie offen sprechen Sie denn die ökologische Probleme an? Sagen Sie offen, was Sie denken?
von Weizsäcker: „Normalerweise ja. Unabhängig davon, ob das gerade populär ist. Aber nehmen wir mal das Beispiel China: Es hat überhaupt keinen Sinn, den Chinesen mit erhobenem Zeigefinger zu kommen, sie müssten was zum Thema Klima tun. Die wissen ganz genau, dass in ihrer gegenwärtigen Entwicklungsphase eine energieintensive Infrastruktur aufgebaut wird und sie sich es gar nicht leisten können, den Stromverbrauch herunterzufahren. Da muss man mit Strategien kommen, die für das Volk politisch akzeptabel sind, beispielsweise mit einer sanften Energiepreiserhöhung – proportional zur Erhöhung der Energieproduktivität. Das ist verträglich mit dem Konzept der harmonischen Gesellschaft von China. Aber so etwas ist kein Schwindeln von meiner Seite, sondern ein realpolitischer Kompromiss.“
DBU: Was ist für Sie persönlich, der größte Erfolg Ihrer umweltpolitischen Laufbahn?
von Weizsäcker: „Vielleicht die Konzepte Faktor Vier und Faktor Fünf, die in gewissem Sinne von meinem Freund Friedrich Schmidt-Bleek stammen. Er hat von vornherein mit dem Faktor Zehn angefangen. Die Botschaft war: ‚Prahlt doch bitte nicht mit einer Verbesserung der Energieeffizienz von 16,5 Prozent. Denkt endlich mal an größere Dimensionen! So etwas wie 300 Prozent – das wäre dann ein Faktor Vier. Oder 900 Prozent, das wäre ein Faktor Zehn.’ Wenn man das ernst nimmt, dann sieht man auf einmal, dass das gar nicht ausweglos ist, dass das gar nicht unmöglich ist. Kann sein, dass es noch eine Weile dauert. Die alte Denke von kleinen Prozentsätzen habe ich immer in Ehren gehalten, aber sie muss auf die Dauer ersetzt werden durch kühneres Denken! Dass sich dieses Denken in der deutschen und internationalen Diskussion als ernsthafte Anforderung an die Klima- und Ressourcen-Herausforderung eingebürgert hat, kann man als eine Art Erfolg meines Teams am Wuppertal-Institut in den 90er Jahren bezeichnen. Soweit ich daran beteiligt war, war es auch mein Erfolg.“
DBU: Sie werden am 26. Oktober in Rostock ein Preisgeld von 250.000 Euro entgegen nehmen. Wissen Sie schon, was Sie mit dem Geld machen?
von Weizsäcker: „Wahrscheinlich werde ich zusammen mit meiner Frau eine Art von Institut in Emmendingen gründen, das sich mit Umweltfragen im weiteren Sinne beschäftigen wird. Da ist es wunderbar, ein bisschen Startgeld zu haben, damit man sich nicht alles zusammenpumpen muss. Im Übrigen haben wir eine große Familie mit fünf Kindern und bislang sieben Enkeln – da ist man nie in Verlegenheit.“
DBU: Sie bekommen den Preis zusammen mit dem Unternehmer Dr. Holger Zinke, Gründer des Biotechnologie-Unternehmens BRAIN AG – was sagen Sie zu Ihrem Umweltpreispartner?
von Weizsäcker: „Zunächst freue ich mich als ehemaliger Biologe sehr darüber, dass Herr Zinke mit seiner Weißen Biotechnologie kreative Arbeit auf biologischer Grundlage macht – offenbar sehr erfolgreich und im Sinne von Einsparen von Energie und von Stoffen für die Ressourcenproduktivität. Ich weiß sehr genau, wie sehr man auf innovative Wissenschaftler und Techniker angewiesen ist. Ich wünsche ihm alles Gute.“
Das Interview führte Taalke Nieberding, DBU.