Prof. Dr. Melanie Jaeger-Erben leitet das Fachgebiet Technik- und Umweltsoziologie an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus – Senftenberg und ist Mitarbeiterin am Fraunhofer IZM. Sie war zuvor Professorin für transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung an der TU Berlin. Sie forscht unter anderem zu soziotechnischem Wandel, (nicht)nachhaltigen Produktions- und Konsumsystemen sowie sozialer Innovation. Mit der Hans Sauer Stiftung baut sie seit 2020 das transdisziplinären Forschungsthema und Netzwerk „Circular Society“ auf, das die Erweiterung der Circular Economy-Debatte auf den Wandel gesellschaftlicher Verhältnis und die Partizipation der Gesellschaft zum Ziel hat.
Paul Szabó-Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Informatik der Hochschule Ruhr West (HRW). Dort leitet er das Arbeitspaket Qualifizierungsbedarfe im Projekt Prosperkolleg, welches die Transformation zur Zirkulären Wertschöpfung in der Region Emscher-Lippe und in NRW untersucht. Paul Szabó-Müller arbeitete mehrere Jahre am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie der RWTH Aachen. Dort unterstützte er zuletzt als externer Referent Prof. Dr. Martina Fromhold-Eisebith bei ihrer Arbeit als Beirätin im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) und arbeitete unter anderem am WBGU-Hauptgutachten „Unsere gemeinsame digitale Zukunft“ mit.
In unserem Beitrag sind wir gleich zwei potenziellen Mythen zur Zukunft der Wertschöpfung auf der Spur, die mehr und mehr zusammenfließen: Circular Economy und Digitalisierung. Das Versprechen der Circular Economy ist verlockend, wird doch das Ziel verfolgt, das Wirtschaftswachstum durch einen umfassenden Wandel der Produktionssysteme vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln und gleichzeitig neue Geschäftsmöglichkeiten zu erschließen und Wohlstand zu steigern. Mit diesem Versprechen vermochten die modernen Verfechter des Kreislauskonzepts (z. B. EMF, 2013) eine große Zahl heterogener Akteure hinter sich zu versammeln und es als elementaren Bestandteil politischer Zukunftsprogramme wie dem European Green Deal (Europäische Kommission, 2019) zu verankern. Hilfreich ist dabei sicherlich, dass sich die Circular-Economy-Debatte eines weiteren Narrativs zur Zukunft der Wertschöpfung bedient, das bereits zuvor große Wirkmächtigkeit erlangt hat: die Digitalisierung. Quasi als deutsche Antwort auf die Dominanz Nordamerikas und Asiens in der Digitalwirtschaft wurde vor circa 10 Jahren der Begriff Industrie 4.0 als Narrativ für das Digitale Zeitalter in Deutschland lanciert. Damit wird eine mögliche nächste Phase der Industrialisierung beschrieben, die durch eine verstärkte und breitere Anwendung digitaler Technologien in der Industrieproduktion gekennzeichnet ist und als ein zentrales Ziel Ressourceneffizienz verfolgt (acatech, 2021). Gleichzeitig ist die Digitalisierung als Megatrend gesellschaftlichen Wandels – in Form zunehmender digitaler Durchdringung des Alltags und Dominanz von Social Media in gesellschaftlichen Diskursen sowie der Allgegenwärtigkeit von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz – zu einem der Hauptthemen wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit der Zukunft der Gesellschaft geworden.
Es verwundert kaum, dass beide Debatten zur Zukunft der Wertschöpfung aufeinander verweisen und sich an ihrer Schnittstelle die „digitale Circular Economy“ als ein Hybridkonzept herausgebildet hat. Denn einerseits bietet die Circular Economy ein Anwendungsfeld für den (vermeintlich) nachhaltigen Einsatz diverser Industrie-4.0-Technologien und legitimiert die entsprechende Forschung und Entwicklung – auch entgegen der zunehmenden Kritik an den sozial-ökologischen Folgekosten der Digitalisierung. Andererseits sind digitale Technologien aus Strategien der Circular Economy kaum mehr wegzudenken (z. B. Europäische Kommission, 2019 ; Circular Economy Initiative Deutschland, 2021). Datenplattformen und -netzwerke sollen dazu beitragen, Materialkreisläufe zu schließen, indem sie genaue Informationen über die Verfügbarkeit, den Standort und den Zustand von immer mehr Produkten liefern. Die Digitalisierung soll effizientere Prozesse in Unternehmen ermöglichen, zur Abfallvermeidung beitragen, eine längere Lebensdauer von Produkten fördern und Transaktionskosten minimieren (Antikainen et al., 2018).
Während die beschriebene Annäherung zunächst vor allem auf konzeptioneller Ebene stattfand (z. B. EMF, 2016) sowie in einigen wissenschaftlichen Arbeiten Ausdruck fand (vgl. Antikainen et al., 2018), beobachten wir immer mehr Praxisbeispiele für digitale Circular Economy. Deshalb ist es höchste Zeit, eine differenzierte Diskussion beziehungsweise Positionsbestimmung zum Mythos „Digitalisierung ist ein ‚Enabler‘ der Circular Economy“ anzustoßen.
Diese Frage lässt sich bisher nicht mit Daten und Fakten beantworten, da die Debatten in beiden Themenbereichen vor allem Szenarien beschreiben. Die Potenziale bleiben somit ein Mythos. Klar ist, dass die Digitalisierung ein ambivalentes Verhältnis zur Nachhaltigkeit hat und bisher nicht zu einer weitreichenden Dematerialisierung oder Effizienzrevolution beitragen konnte (Lange & Santarius, 2018; Sühlmann-Faul & Rammler, 2018). Ähnlich führt auch der Wandel zu einer Circular Economy nicht zwangsläufig zu einer nachhaltigeren Produktion (Corvellec et al., 2021). Vor diesem Hintergrund vertreten wir die These, dass die Digitalisierung als Enabler einer Circular Economy nur dann zu nachhaltigen und zukunftsfähigen Produktions- und Konsumsystemen führt, wenn auf beiden Seiten einige Grundbedingungen erfüllt sind.
Werfen wir zunächst einen kurzen Blick darauf, was die Digitalisierung überhaupt ermöglichen kann. Dazu bedienen wir uns einiger Argumente des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU, 2019, 70 & 93) und des Projekts reWIR, in dem eine regionale Innovationsstrategie für die digitale Circular Economy im Ruhrgebiet partizipativ erarbeitet wurde.
Häufig wird Digitalisierung der Produktion gleichgesetzt mit dem Einsatz digitaler Technologien wie Additive Fertigung, Big Data, Blockchain, Internet der Dinge, Künstliche Intelligenz (KI), Robotik. Aber viel wichtiger ist, welcher Nutzen damit verbunden ist. Laut WBGU sind dies die „Kerncharakeristika“ des digitalen Zeitalters Vernetzung, Kognition, Autonomie, Virtualität und Wissensexplosion. Wie verbindet sich das mit der Circular Economy? Die Additive Fertigung , also „3-D-Druck“, kann Ressourcen schonen, indem Bauteile oder Ersatzteile nur auf Anfrage produziert werden. Das Internet der Dinge kann Unternehmen vernetzen, sodass sie über Online-Plattformen Reststoffe austauschen können. Mit zum Beispiel cirplus, restado (siehe Beitrag Campanella & Knödler) oder ReUse & Trade existieren in Deutschland einige Plattformen für den Handel mit Rezyklaten und Reststoffen, jedoch finden die Transaktionen bisher manuell und nicht automatisiert über das Internet der Dinge statt. Die Blockchain-Technologie kann ein zirkuläres Lieferkettenmanagement unterstützen, indem sie Daten über die Herkunft eines Stoffs entlang der Lieferkette verlässlich und vertraulich weitergibt (z. B. Circularise). Dies spielt zusammen mit Instrumenten wie dem digitalen Produkt- beziehungsweise Materialpass (siehe Case Study) sowie großen Datenbanken wie dem Baustoffkataster Madaster, vorgestellt in Beitrag Bergmann. Die Kombination aus Sensorik und KI kann vielfältig eingesetzt werden. So ist etwa durch Bilderkennung- und -analyse eine Vorausschau und Vermeidung von Schäden möglich (sog. Predictive Maintenance) der Recyclingprozesse können automatisiert, beschleunigt und dadurch wirtschaftlicher werden (Abou Baker et al., 2021). KI kann zudem dabei unterstützen, Bestände bedarfs- und zeitoptimiert zu planen, etwa um Lebensmittelverschwendung zu reduzieren (z. B. REIF).Der Beitrag Leitl et al. legt weitere Möglichkeiten von KI dar. Innovative Methoden des E-Learnings und Virtuelle Realitäten können Kompetenzen für nachhaltigere Konsum- und Produktionsweisen unterstützen, indem sie zukünftige Veränderungen begreifbar machen (WBGU, 2019, 224 ff.). Auch soziale Medien müssen geschickt mit eingebunden werden, wie der Beitrag Küberling-Jost et al. zu digitalen Kommunikationstechnologien aufzeigt.
Die Verbindung von Digitalisierung und Nachhaltigkeit bietet auch das Potenzial, gezielt Schnittstellen zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft zu schaffen und mehr Menschen an Transformationsprozessen zu beteiligen. Konsument*innen kann mehr Transparenz zu langlebigen Produkten, ihren Eigenschaften und Produktionsbedingungen geboten werden; Teilen und Tauschen als nutzungsverlängernde Strategien können über Plattformen gefördert werden und nicht zuletzt können soziale Innovationen im Sinne der Circular Economy von der Nutzung digitaler Medien und Anwendungen profitieren. So sorgt beispielsweise die Maker-Bewegung mit kollaborativen Lern- und Experimentierräumen wie FabLabs für einen niederschwelligen Zugang zu digitalen Produktionstechnologien wie 3-D-Druckern und fördern damit die Bildung digitaler Produktionsgemeinschaften. Sie müssten jedoch gezielter auf Nachhaltigkeit beziehungsweise Circular Economy ausgerichtet werden (WBGU, 2019, 170 ff.). Auch in den Debatten zu einem „Recht auf Reparatur“ und Visionen einer „Reparaturgesellschaft“ (Baier et al., 2016) wird die Digitalisierung als potenzieller Ermöglicher einer transparenteren, dezentralisierten und partizipativen Entwicklung zu mehr Nachhaltigkeit thematisiert (z. B. Repair Cafés, digitaler Zugang zu Reparaturanleitungen, Online-Ersatzteilshops).
Die genannten Beispiele zeigen nur einen Teil des weiten Spektrums an Anwendungsmöglichkeiten digitaler Technologien für die Circular Economy und möglicher Synergien zwischen beiden Trends im Sinne der Nachhaltigkeit. Die Fülle an Beispielen soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Circular Economy allgemein noch ein Nischendasein fristet (vgl. OECD, 2019). Da beide Entwicklungen zudem problematische Seiten haben, können sich möglichen Nachhaltigkeitsrisiken durch eine zu sorglose Anwendung oder Verbindung potenzieren.
Zum einen hat sich gezeigt, dass die Digitalisierung es bisher nicht vermag, die globalen Ressourcenverbräuche zu senken und sogar eher im Gegenteil dafür sorgt, dass diese sich noch erhöhen. Die Produktion und der Betrieb digitaler Infrastrukturen bedarf eines enormen Ressourcen- und Energieinputs, dabei kommt es zu weitreichenden Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen, etwa bei der Produktion von Elektrogeräten und der Entsorgung von Elektroschrott (WBGU, 2019, 184 ff.). Zudem werden die Effizienzgewinne durch extensivere Nutzungsweisen zunichte gemacht. Beispielsweise ersetzt zwar das Videostreaming DVDs, -Player und den Weg zur Videothek, gleichzeitig wird jedoch viel mehr über Cloud-Infrastrukturen gestreamt (Lange & Santarius, 2018). Smart-Home-Anwendungen können ein besseres Energiemanagement in Haushalten bewirken, die meistverkauften smarten Geräte sind jedoch im Komfortbereich angesiedelt und erhöhen somit Ausstattung und Verbrauch (ebd.). Darüber hinaus gehören digitale Geräte zur am stärksten wachsenden Elektroschrott-Kategorie, wobei Elektroschrott selbst wiederum der am schnellsten wachsende Abfallstrom ist (Forti et al., 2020). Energiesparende Rechenzentren, der Einsatz aufbereiteter und wiederverwendeter IT-Hardware, erhältlich beispielsweise bei Techbyuer oder AfB Green IT oder modulare Designs von Endgeräten, wobei Fairphone und Shiftphone diesbezüglich erste Lösungsversuche sind. Das Beispiel von Techbuyer wird intensiv in Beitrag XX EDITOR ADD LINK TO WYNNE ET AL besprochen, Shiftphone ist EDITOR ADD LINK TO REVELLIO erläutert. Ähnliche Stolpersteine und Risiken lassen sich für die Circular Economy identifizieren. Auch hier sind zunächst energie- und ressourcenintensive infrastrukturelle Voraussetzungen zu schaffen, um die derzeitigen Ressourcenströme in Kreisläufe zu lenken – viele technische und prozedurale Fragen sind dabei noch ungelöst (Corvellec et al., 2021). Rebound-Effekte, beispielsweise durch steigenden Konsum, sind in der Circular Economy ebenso zu erwarten (Zink & Geyer, 2017). Und der Fokus auf Effizienz- und Konsistenzstrategien im „Mainstream“ der CE-Forschung lässt außer Acht, dass eine sozial-ökologische Transformation von Produktion und Konsum nur mit einer immensen Reduktion von Ressourcen- und Energieverbräuchen möglich ist (Jaeger-Erben & Hofmann, 2019).
Die Circular-Economy-Literatur fokussiert oft auf „gute“ Bespiele, die allerdings aus der Perspektive starker Nachhaltigkeit zu hinterfragen sind, weil sie nur inkrementelle Lösungen schaffen. Die Realität bleibt bei beiden Trends deutlich hinter den Nachhaltigkeitsversprechen zurück, dabei sind beide Entwicklungen aufeinander angewiesen. Ohne digitale Lösungen für die Kommunikation zwischen den Akteuren der Wertschöpfung, digitale Plattformen oder Tracking- und Sensortechnik lassen sich Wertschöpfungsnetzwerke nicht – weder in der globalisierten noch in einer regionalisierten Wirtschaft – etablieren. Ohne zirkuläre Designs, langlebige Technik und gute Nachnutzungs- sowie Recyclingstrukturen wird die Digitalisierung zum sozial-ökologischen Desaster. Der notwendige Umbau der Infrastrukturen ist dabei nur ein Problem. Oft fehlt es bereits schon am Wissen, sowohl an „digitalen“ wie auch „zirkulären“ Kompetenzen (Zwiers et al., 2020). Da sowohl „Digital Readiness“ als auch „Circular Readiness“ aktuell fehlen, können sich weder Wirtschaft noch Gesellschaft hinreichend an digital-zirkulärer Wertschöpfung beteiligen, so eine Hypothese von reWIR. Vielmehr addieren oder gar potenzieren sich die jeweiligen Innovationshemmnisse und Risiken. Um beide Entwicklungen dennoch zu einem gemeinsamen Enabler für Nachhaltigkeit zu machen, sind einige Herausforderungen zu meistern. Dazu gehört zuallererst mehr Forschung im Bereich der digitalen und zirkulären Suffienz und die Entwicklung von Innovationen, die eher am Konzept der Frugalität („so wenig wie möglich für den größten Nutzen“) orientiert sind als an der Opulenz („so viel wie geht“). Das Konzept Suffizienz wird in Beitrag XX EDITOR ADD LAURA & ALEXA tiefergehend behandelt. Zudem muss sichergestellt werden, dass die energetische Basis der digital-zirkulären Wertschöpfung zu 100 % auf erneuerbaren Energien basiert. Dringend zu klären sind offene Fragen zur IT- und Cybersicherheit und dem Datenschutz, da beide für die Akzeptanz digital-zirkulärer Lösungen entscheidend sind. Und nicht zuletzt ist es unerlässlich, die digital-zirkuläre Wertschöpfung auch als gesellschaftliche und kulturelle Transformation zu denken und zu betreiben. Dabei ist die Frage der sozialen Teilhabe und Inklusion (Wieser, 2021) genauso entscheidend wie die Ermöglichung und Förderung von sozialer Innovation für kollaborative, ko-kreative und regionale Wertschöpfung (Jaeger-Erben et al., 2020). Dazu gehört auch, jenseits digitaler Technologien Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit unterschiedlichen Bildungs- und Qualifikationsniveaus zu schaffen könnten, etwa durch Sammlung, Aufbereitung oder Recycling von Elektroschrott durch gemeinnützige Organisationen (Circular Jobs Initiative; WBGU, 2019, 184 ff.).
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass wir uns in einer entscheidenden Übergangsphase befinden. Damit Digitalisierung ein Enabler für die Circular Economy ist und umgekehrt, die Circular Economy die Chancen auf eine nachhaltige Digitalisierung erhöht, müssen -wie gezeigt- einige Grundvoraussetzungen erfüllt werden. Mit dem Beispiel des „digitalen Produktpasses“ möchten wir ein mögliches Positivszenario aufzeigen.
Der digitale Produktpass ist dem „European Green Deal“ und dem zugehörigen Circular-Economy-Action-Plan zufolge ein zentrales Instrument für die Transformation zur Circular Economy (Götz et al., 2021). Denn zirkuläre Wertschöpfungsnetzwerke bedürfen der intensiveren Vernetzung von Akteuren im Produktions- und Konsumsystem sowie eines dynamischen Austauschs von Informationen über die sich verändernden Eigenschaften von Produkten in den verschieden (Wie-der)herstellungs- und Nutzungsphasen (siehe auch das Projekt „Produktinformationen 4.0“ der TU Berlin im Auftrag des Umweltbundesamts). Der Produktpass besteht vor allem aus einer Internet-der-Dinge-Plattform, die mehr oder weniger offen zugänglich solche Daten dynamisch speichert, die für den Informationsaustausch über einzelne Wertschöpfungsstufen hinweg nötig sind. Damit soll allen beteiligten Akteuren – vom Hersteller über den Handel und die Produktnutzenden bis hin zu Reparatur-, Aufbereitungs- und Recyclingbetrieben – ermöglicht werden, die produktspezifischen Eigenschaften, wie Zusammensetzung, Funktions- und Betriebsweise, Reparatur- und Recyclinganweisungen oder Produktlebensdauer zu bestimmen (vgl. BMU, 2021). Der Produktpass soll dazu beitragen, Informationsasymmetrien innerhalb des Produktlebenszyklus zu reduzieren und damit ungenutzte Kreislaufpotenziale für die jeweiligen Akteure zu erschließen. Damit kann er auch zur „circular literacy“ beitragen, denn er vermittelt einen systemischen Blick auf Produkte. Er sorgt damit potenziell nicht nur für mehr Transparenz und eine bessere Basis für informierte Entscheidungen. Der Produktpass errichtet auch ein alternatives soziotechnisches Netzwerk, das neue nachhaltigkeitsorientierte Wertdimensionen jenseits von Tausch- und Gebrauchswert entstehen lässt und die vielfältigen möglichen Zugriffe auf ein Produkt und die Wertpotenziale verdeutlicht, die über Verkauf oder Verbrauch hinausgehen. Der Produktpass zeigt die „Biografie“ von Produkten und bringt die Wertschöpfungsakteure näher zusammen. Er ermöglicht, dass beispielsweise Produktentwickler die Zukunft eines Objekts umfassender als zuvor antizipieren und ihr Produkt bedürfnisorientierter entwickeln können. Nutzende können sich über den Produktpass als Teil eines Wertschöpfungskreislaufs wahrnehmen und im Idealfall daran beteiligen. Wichtig ist jedoch, den Produktpass auch als soziale Innovation zu begreifen, der nicht nur industriell-technische Prozesse verändert, sondern auch die sozialen Praktiken in Unternehmen, Betrieben und Haushalten. Daraus folgt der Anspruch, den Produktpass gemeinsam mit allen potenziellen Beteiligten weiterzuentwickeln, um deren Informationsbedarfe zu ermitteln. Der Produktpass hat dann das Potenzial, das Beste aus Digitalisierung (Transparenz, Effizienz, Demokratisierung, Bedürfnisorientierung) und Circular Economy (Nutzungsdauerverlängerung, Ressourcenschonung und -produktivität) im Sinne der sozial-ökologischen Transformation zu vereinen.
Forschung und Entwicklung für eine digitale Circular Economy muss über technik-fixierte und Geschäftsmodell-Lösungen hinausgehen und sich stärker auf Suffizienzstrategien, frugale Innovationen, eine erneuerbare energetische Basis der Wertschöpfung und die Schaffung von Teilhabe- und Beteiligungschancen fokussieren. Dies muss sich in einschlägigen Förderprogrammen mehr als nur rhetorisch widerspiegeln.
Unternehmen sollten Innovationspotenziale der digitalen Circular Economy sorgfältig prüfen und geeignete Lösungen zur Verbesserung ihrer Nachhaltigkeit einsetzen. Sie sollten dabei die Wirkungen über die eigenen Unternehmensgrenzen hinaus berücksichtigen und offen sein für eine breitere Vernetzung im zirkulären Wertschöpfungssystem. Im Betrieb sollten die Beschäftigten mitgenommen (Beteiligung) und befähigt (Qualifizierung) werden. Mit Instrumenten wie dem digitalen Produktpass kann es gelingen, das Beste aus Digitalisierung und Circular Economy zu vereinen, wenn sowohl wirtschaftliche als auch gesellschaftliche Akteure angemessen einbezogen werden. Dieser Beteiligungsprozess muss politisch organisiert werden.
Circular Economy und Digitalisierung sollten gezielt in Lehrpläne aufgenommen werden, um eine „digital circular literacy“ zu schaffen. Dabei geht es einerseits um Konzeptwissen (z. B. Bedeutung von Prosuming, Grenzen des Konsums), sowie insbesondere auch um Handlungswissen (z. B. Produkte desginen, Programmieren, Reparaturen durchführen), dass etwa in Schüler*innenlaboren, Studierendenprojekten vermittelt werden kann.
Dieser Beitrag ist als Teil des Sammelbands „Mythen der Circular Economy“ erschienen, der Sammelband für Entscheider*innen und Macher*innen in Industrie, öffentlichem Sektor, Zivilgesellschaft und Wissenschaft.
Hier geht’s zum kostenlosen DownloadAbou Baker, N., Szabo-Müller, P. & Handmann, U. (2021). A Feature-Fusion Transfer Learning Method as a Basis to Support Automated Smartphone Recycling in a Circular Smart City. In S. Paiva, S. I. Lopes, R. Zitouni, N. Gupta, S. F. Lopes & T. Yonezawa (Hrsg.), Lecture Notes of the Institute for Computer Sciences, Social Informatics and Telecommunications Engineering. SCIENCE AND TECHNOLOGIES FOR SMART CITIES: 6th eai international conference (Bd. 372, S. 422–441). SPRINGER. 03/2022 bei https://doi.org/10.1007/978-3-030-76063-2_29
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