Die Energiewende in Deutschland wird nicht nur im Übertragungsnetz, sondern vor allem in den über 800 regionalen Verteilnetzen stattfinden. Die zunehmend dezentrale Energieerzeugung, insbesondere durch erneuerbare Energien und deren Einspeisung in das Stromnetz, stellt große Anforderungen an die Verteilnetze, hauptsächlich hinsichtlich der Überwachung des Netzzustands und der flexiblen Steuerung und Regelung des Netzbetriebes.
Die, als Spin-off der RWTH Aachen entstandene, Gridhound GmbH hat es sich zur Aufgabe gemacht, die digitale Transformation in diesen Netzen voranzubringen. Ein zentrales Instrument zur Steuerung und Überwachung der Verteilnetze ist die Netzzustandsschätzung. Diese lässt sich heute nur mittels aufwändiger Messtechnik realisieren. Die damit einhergehenden Kosten sind für die Netzbetreiber nicht tragbar, daher findet eine Überwachung und Regelung der Verteilnetze heute nur in sehr geringem Umfang statt.
Das völlig neuartige Produkt „GRAICE“ (Grid-Artificial-Intelligence-Computing-Engine) soll zukünftig, mit Hilfe eines KI-Systems, das Verhalten des Verteilnetzes erlernen und, auf Basis sehr weniger Messstellen, die elektrischen Kenngrößen an allen anderen Netzelementen schätzen. Damit soll die vollständige Beobachtbarkeit im Verteilnetz hergestellt werden.
Dies ist für eine effiziente Umsetzung der Energiewende von größter Bedeutung. Bisher wurde das System Graice für die Spannungsschätzung entwickelt und wird derzeit in Forschungs-Verteilnetzen realitätsnah getestet. Im geplanten Projekt geht es nun um die Erweiterung um die Schätzgrößen elektrische Stromstärke und Leistung.
Die Umsetzung des Lösungskonzepts erfolgt in vier Arbeitspaketen, die einzelnen Arbeitsschritte zeigen die Umsetzung des Lösungswegs.
AP 1 Analyse der Schätzergebnisse
Zeitrahmen 13 Monate (7 PM)
Aufgaben:
• Auswahl von geeigneten KPI (Key-Performance-Indicator) zur Bewertung der Zustandsschätzung und zur Bewertung der Optimierungspotentiale (1 PM)
• Zielgrößen definieren (1 PM)
• Messdatenaufnahme und -speicherung (1 PM)
• Vergleich der Schätzung anhand realer Messdaten in Feldtestgebieten bzgl.
AP2-4 (3 PM)
• Plausibilisierung der Zustandsschätzung für den Anwender (z.B. physikalische Zusammenhänge) (1 PM)
AP 2
Optimierung der Trainingsdaten
Zeitrahmen 5 Monate (8 PM)
Aufgaben:
• Netzmodelle Mittelspannung (1 PM)
• Niederspannung Ersatznetze (1 PM)
• Modellierung (CGMES) (1 PM)
• Optimierung der Erzeugung von Leistungsprofilen für die Lastflussrechnung (1 PM)
• Referenzanlagen für EEG-Erzeugung (1 PM)
• Zeitabhängiges Training mit Messdaten / Pseudoprofilen (1 PM)
• Wetterdaten aus Drittsystem (1 PM)
• Tages-/Jahreszeit (1 PM)
AP 3 Optimierung der Eingangsdaten (Messdaten)
Zeitrahmen 5 Monate (9 PM)
Aufgaben:
• Umrechnung von Messwerten (1 PM)
• Messkette, Messfehler (2 PM)
• Optimale Messstellenplatzierung (2 PM)
• Optimale Messgrößen (1 PM)
• Weitere Messstellen wie z.B. große Erzeugungsanlagen (1 PM)
• Pseudomesswerte aus installierten Leistungen von Last und Erzeugung (2 PM)
AP 4 Optimierung des Algorithmus
Zeitrahmen 11 Monate (15 PM)
Aufgaben:
• Schaltzustände berücksichtigen (3 PM)
• Berücksichtigung elektrotechnischer Zusammenhänge (2 PM)
• Alle Größen als Ergebnis der State Estimation in ausreichender Genauigkeit (KPIs; 10 PM)
• Konzeptentwicklung (3 PM)
• Implementation und Test einzelner Schlüsselanteile (3 PM)
• Implementation der restlichen Anteile (3 PM)
• Integration und Test (1 PM)
AP 5 Marktbeobachtung
Zeitrahmen 13 Monate (1 PM)
Aufgaben:
• Fortlaufende Beobachtung ähnlicher Projekte und Berücksichtigung der Ergebnisse (1 PM)
Diskussion der Ergebnisse
Das entwickelte System erfüllt überwiegend die gewünschte Genauigkeit und ist damit in der Praxis einsetzbar. Einzelne unregelmäßig auftretende Lastspitzen können nur mit einer geringeren Genauigkeit berechnet werden, da hier keine ausreichenden Informationen für eine höhere Genauigkeit vorliegen (siehe Abbildungen). Im Mittel wird ein Fehler von unter 25 % erreicht, was nur knapp unter dem ursprünglich gesetzten Wunschziel von 20 % liegt. Die höheren Fehlerwerte können im Wesentlichen auf die unregelmäßig auftretenden Lastspitzen zurückgeführt werden. Die schlechte Qualität der Eingangsdaten, wie Netz-, Mess- und Stammdaten haben eine größere Herausforderung dargestellt als erwartet. Um die Daten auf ein für das System erforderliches Qualitätsniveau zu heben, wurden außerhalb des Förderprojekts entsprechende Tools und Methoden entwickelt, die das Problem beherrschbar machten.
Auch die Marktbeobachtung anderer Projekte und Entwicklungen gestaltete sich teilweise schwierig, da kaum Informationen zu den Projektfortschritten oder den Entwicklungsständen frei verfügbar waren. Das zeigt jedoch andererseits auch den Neuigkeitsgrad dieses Themenfeldes. Durch die Teilnahme an diversen Projektveranstaltungen konnten jedoch einige Informationen gewonnen werden. Im Ergebnis haben sich aber keine für das eigene Projekt verwendbaren Erkenntnisse ergeben bzw. konnte festgestellt werden, dass GRAICE weiterhin Alleinstellungsmerkmale aufweist.
Ökologische, technologische und ökonomische Bewertung der Ergebnisse
Die Ergebnisse des Vorhabens belegen, dass durch den Einsatz von KI-Systemen sehr effizient die Beobachtbarkeit in Verteilnetzen hergestellt werden kann. Kein anderes technisches Verfahren kann zurzeit vergleichbare Ergebnisse vorweisen. Künstliche Intelligenz ist dafür sehr gut geeignet, da sie alle relevanten Kriterien, von elektrischen Werten über Zeit, Wetter und Nutzerverhalten in den Algorithmus integrieren kann. Durch den Einsatz des Systems kann ein direkter Effekt in der CO2-Reduktion von rund 1,65 kg CO2eq pro Einwohner/Verbraucher im Jahr erzielt werden. Diese Reduktion geht allerdings von der jetzigen installierten Leistung von EE-Anlagen in den Verteilnetzen aus. Der Effekt dürfte bei einem beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien, insbesondere von vielen kleineren, dezentralen Erzeugeranlagen, sehr viel größer werden. Die zur Erreichung der Klimaziele benötigte Geschwindigkeit des Ausbaus erneuerbarer Energien wird mit den aktuellen Verteilnetzen nicht realisierbar sein. Der alleinige Ausbau der Infrastruktur ist weder in der nötigen Zeit noch zu vertretbaren Kosten umsetzbar. Daher kann nur eine Kombination aus Digitalisierung und Infrastrukturausbau die Verteilnetze für die Energiewende ertüchtigen. Grundvoraussetzung der Digitalisierung ist aber die Herstellung der Beobachtbarkeit. Daher ist das entwickelte System eine der Grundvoraussetzungen für die Ertüchtigung der Verteilnetze.
Maßnahmen zur Verbreitung der Vorhabenergebnisse
Das Ziel des Projekts war es, die Methoden zur Netzzustandsschätzung von Strom und Leistung zu erforschen und zu entwickeln. Diese Ergebnisse werden im Rahmen von verschiedenen Aktivitäten aktiv als Produktportfolio dargestellt und beworben.
Zu den Aktivitäten gehören Messen wie die E-world energy & water 2023 und die The smarter E Europe 2023, Veranstaltungen wie bdew Treffpunkt Netze 2023 und die netz.con (früher FNN Kongress Netze) des VDE im Jahr 2024. Des Weiteren gehören zu den Aktivitäten Kunden- und Vertriebstermine sowie Vorträge im Rahmen von kleineren Veranstaltungen bei Universitäten (z. B. RWTH Aachen, TH Köln) und Fachverbänden (DGI). Auch bei technischen Diskussionen in anderen Forschungsprojekten (SEGuRo und Quirinus) können die Projekterkenntnisse verbreitet werden.
Die Vorhabenergebnisse liegen nur knapp hinter dem optimistischen Wunschziel zurück und sind damit voll praxistauglich. Die Ungenauigkeiten in den Eingangsdaten sowie unzureichende Informationen sind hier die wesentlichen Ursachen.
Die erwarteten Umweltziele können voraussichtlich erreicht werden. Der Nachweis darüber wird erst über die aktive Laufzeit von mind. 1 Jahr erbracht werden können.
Eine wesentliche Erkenntnis ist, dass die Aufbereitung der Eingangsdaten mehr Aufmerksamkeit erfordert, als ursprünglich angenommen. Eine weitere Erkenntnis ist, dass unregelmäßig auftretende Lastspitzen nur mit weiteren Informationen zu schätzen sind. Hier können zusätzliche Messtechnik oder detaillierte Kenntnisse über den Fahrplan der Anlagen abhelfen.
Es gibt weitere Optimierungsmöglichkeiten, die Schätzergebnisse zu verbessern, allerdings steht hier ein hoher FuE-Aufwand einer geringen Verbesserung gegenüber.
Für den breiten Rollout bei den Stadtwerken und Flächenverteilnetzbetreibern sind Ergänzungen in der Auswertung erforderlich, wie z. B. regelmäßige Reports über auftretende Unregelmäßigkeiten oder auch die Analyse der Auslastung der Transformatoren und Leitungen.