Projekt 35499/01

Identifizierung von Wanderkorridoren auf naturnahen unstrukturierten Sohlengleiten durch die holistische Analyse von Fischtrajektorien und Strömungsbedingungen

Projektdurchführung

Technische Universität Braunschweig Leichtweiß-Institut für Wasserbau Abteilung Wasserbau und Gewässermorphologie
Beethovenstr. 51 a
38106 Braunschweig

Zielsetzung

Die ökologische Durchgängigkeit des Fließgewässernetzes wird allein in Deutschland von mehr als 215.000 Querbauwerken verschiedenster Art und Größe unterbrochen. Da nahezu alle heimischen Fischarten in ihrem Lebenszyklus auf eine ungehinderte Migration angewiesen sind, ergeben sich durch eine eingeschränkte oder fehlende Durchgängigkeit negative Auswirkungen auf die aquatischen Lebensgemeinschaften. Die Wiederherstellung der ökologischen Durchgängigkeit ist ein wesentliches Ziel der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie (EG-WRRL 2000), die aktuell bis zum Jahr 2027 die Erreichung des guten ökologischen Zustands bzw. des guten ökologischen Potentials der Grund- und Oberflächenwasserkörper in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union fordert. Um die Ziele der EG-WRRL in Deutschland zu erreichen, wurden bis heute zahlreiche Maßnahmen zur Herstellung der ökologischen Durchgängigkeit bzw. der Verbesserung der Gewässerstruktur der Fließgewässer durchgeführt (BMUV/UBA 2022).
Ist aufgrund der lokalen Randbedingungen die Vorzugslösung des kompletten Rückbaus eines Querbauwerkes an wasserwirtschaftlich wichtigen Anlagen nicht möglich, kommen in der Regel technische und räumlich begrenzte Durchgängigkeitsbauwerke, häufig im Nebenschluss des Querbauwerkes zum Einsatz. Erfüllt ein Querbauwerk seine ursprüngliche Funktion nicht mehr und muss ein Höhensprung in der Gewässersohle bzw. eine bestimmte Mindestwasserspiegellage im Oberwasser erhalten werden, bietet sich der Einsatz von Sohlengleiten an, die über die gesamte Gewässerbreite reichen und mit Hilfe derer der Höhenunterschied auf relativ kurzer Strecke überwunden wird (DWA 2009).
Naturnahe unstrukturierte Sohlengleiten zeichnen sich durch die flächige und unregelmäßige Anordnung von Störsteinen unterschiedlicher Größe aus, was eine räumlich heterogene Gewässersohle mit vielfältigen Strömungsverhältnissen schafft. Sie passen sich, verglichen mit geometrisch definierten Bauformen, sehr gut in das Erscheinungsbild des jeweiligen Fließgewässers ein und bieten zusätzliche Habitate für die aquatische Fauna. Die hydraulische Dimensionierung dieser Bauwerke erfolgt über empirische Berechnungsansätze, die auf abschnittsgemittelten Werten basieren (DWA 2009), so dass die zur Fischpassierbarkeit nötigen Aussagen über lokale Strömungsverhältnisse nicht möglich sind. Dies wiederum bedeutet, dass der Nachweis passierbarer Wanderkorridore auf Grundlage des aktuellen technischen Regelwerks gemäß DWA M-509 (DWA 2014) für Fische mit Unsicherheiten behaftet ist, weshalb dieser Gleitentyp trotz seiner Vorteile oftmals nicht umgesetzt wird. Deshalb wird in der Praxis fast ausschließlich auf eher technische, aber trotzdem „naturnah“ genannte Bauformen wie Riegel-Beckenstrukturen zurückgegriffen. Nach Auskunft der in der Praxis zuständigen Behörden, Planer und Unterhaltungsverbände in Niedersachsen werden naturnahe unstrukturierte Sohlengleiten jedoch als Vorzugslösung für die Herstellung der ökologischen Durchgängigkeit angesehen.
Die dem Projekt zugrunde liegende Idee ist die direkte Quantifizierung und die Ermittlung der hydraulischen Gegebenheiten entlang von leistungs- und größenabhängigen Wanderkorridoren für den Fischaufstieg auf naturnahen unstrukturierten Sohlengleiten. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Fischarten bei der aufwärtsgerichteten Überwindung eines ausgewählten Bauwerks in Labor- und Naturuntersuchungen mit optischen Methoden beobachtet. Die daraus ermittelten Fischtrajektorien wurden anschließend mit lokalen topographischen Gegebenheiten und lokalen Strömungsgrößen (Fließgeschwindigkeit, Wassertiefe und Turbulenz) verknüpft, um erstmals die von Fischen verschiedener Art und Größe präferierten hydraulischen Bedingungen in Wanderkorridoren auf einer unstrukturierten Sohlengleite zu erhalten. Darüber hinaus ermöglicht diese Vorgehensweise einen direkten Abgleich mit in der Literatur bzw. in technischen Regelwerken angegebenen Grenzwerten hinsichtlich der maximal zulässigen Fließgeschwindigkeiten und erforderlichen Fließtiefen.
Die Zielsetzung des Projekts bestand daher in der Verbesserung des Verständnisses über aufwärtsgerichtete Fischwanderungen auf naturnahen unstrukturierten Sohlengleiten unter besonderer Beachtung hydraulischer und topografischer Randbedingungen zur Identifikation und Definition von Wanderkorridoren. Darüber hinaus sollen die im Rahmen des Projekts erhobenen Daten zur Verbesserung der Dimensionierungsgrundlagen und Monitoringverfahren von naturnahen unstrukturierten Sohlengleiten dienen.

Quellen:
EG-WRRL (2000): Richtlinie 2000/60/EG zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik.
DWA (2009): Naturnahe Sohlengleiten. DWA-Themen.
DWA (2014): Merkblatt DWA-M 509 Fischaufstiegsanlagen und fischpassierbare Bauwerke - Gestaltung, Bemessung, Qualitätssicherung.
BMUV/UBA (2022): Die Wasserrahmenrichtlinie – Gewässer in Deutschland 2021. Fortschritte und Herausforderungen.

Arbeitsschritte

Das Projekt war in die folgenden vier Arbeitsschritte untergliedert:

Arbeitspaket 1: Digitales Höhenmodell
Eine bestehende und in Bezug auf Fischwanderungen nachweislich funktionsfähige naturnahe unstrukturierte Sohlengleite an der Ilme in Niedersachsen war als „best-practice“-Beispiel für das Projekt ausgewählt worden. Das Bauwerk wurde in einer aufwendigen Aktion vollständig trockengelegt und mittels terrestrischem Laserscan sowie Structure-from-Motion-Photogrammetrie detailliert vermessen. Aus den Daten wurde ein dreidimensionales digitales Höhenmodell (DHM) erstellt, das als Grundlage für den Bau des Labormodells (Arbeitspaket 2) und alle weiteren Untersuchungen diente.

Arbeitspaket 2: Laborexperimente
Auf Grundlage des ermittelten DHM der Sohlengleite wurde der für den Fischaufstieg relevante Teil der Geometrie als 1:1-Modell mit 4 m Breite und ca. 10,5 m Länge im Laxelerator bei Projektpartner Vattenfall Research & Development in Älvkarleby (Schweden) nachgebaut. Das Modell wurde mit einem umfangreichen Satz Kameras unter und über Wasser sowie durch die seitlichen Rinnenwände ausgestattet, um Fische bei der Passage der Struktur zu beobachten, und ihre Schwimmpfade zu erhalten. Die ethohydraulischen Experimente wurden mit drei naturähnlichen Durchflüssen im Mittel- bis Niedrigwasserbereich durchgeführt. Dabei kamen vier verschiedene Fischarten in zum Teil mehreren Größenklassen zum Einsatz. Nach Abschluss der Fischtests wurden Fließgeschwindigkeiten sowohl mit zeitlich hochaufgelösten Punktmessungen und flächig an der Wasseroberfläche sowie die Wassertiefen für jeden Durchfluss detailliert aufgenommen.

Arbeitspaket 3: Felduntersuchungen
Auf Grundlage der Experimente im Laxelerator wurde die Gleite in der Ilme über einen begrenzten Zeitraum ebenfalls mit Unterwasserkameras ausgestattet, um Schwimmpfade von aufsteigenden Fischen zu erhalten. Das Strömungsfeld wurde anschließend mit den gleichen Verfahren wie im Labor bestimmt.

Arbeitspaket 4: Holistische Analyse
Durch die Analyse und Verschneidung der bei den Labor- und Felduntersuchungen erhaltenen Informationen (Topografie, Hydraulik und Fischtrajektorien) wurden zunächst für beide Versuchsreihen die fischspezifischen Wanderkorridore identifiziert und die hydraulischen Gegebenheiten entlang dieser Korridore quantifiziert. Zudem wurden Bereiche identifiziert, die von den Fischen gemieden wurden, für welche ebenfalls die hydraulischen Gegebenheiten quantifiziert wurden. Die detaillierte Vorgehensweise bei der Analyse der Daten orientierte sich stark am IPOS-Konzept, d.h. an der Struktur der turbulenten Strömung, um den Einfluss von turbulenten Strukturen auf das Aufstiegsverhalten der Fische im Detail zu untersuchen. Zudem wurden die ermittelten hydraulischen Gegebenheiten bestehenden Grenzwerten für die Fischpassierbarkeit gegenübergestellt. Der Vergleich der Ergebnisse der Labor- und Feldexperimente ermöglichte darüber hinaus neue Erkenntnisse hinsichtlich des leistungs- und größenabhängigen Verhaltens von Fischen in ethohydraulischen Untersuchungen.

Das Konzept des Vorhabens beruhte, etwas salopp ausgedrückt, auf der Idee, die Fische zu ihren eigenen Baumeistern zu machen. Durch die Quantifizierung der von den Fischen gewählten Wanderkorridore können ihre Ansprüche an die Bauwerke direkt aus den Ergebnissen abgeleitet werden und somit sowohl zur Ableitung verbesserter Dimensionierungsgrundlagen herangezogen werden als auch in spätere Planungen einfließen. Diese Vorgehensweise wird als sinnvoll erachtet, da bisherige Erkenntnisse zur Auswirkung räumlich heterogener turbulenter Strömungen auf das Schwimmverhalten von Fischen vornehmlich auf Laborversuchen mit idealisierten Randbedingungen beruhen, die aufgrund der veränderten Habitateigenschaften und der begrenzten Größe der Versuchseinrichtungen nur bedingt mit natürlichen Bedingungen vergleichbar sind. Zudem werden die heterogenen Rauheiten natürlicher Gewässersohlen und die damit einhergehenden komplexen Strömungs- bzw. Turbulenzeigenschaften innerhalb idealisierter Laborversuche oftmals nur unzureichend nachgebildet.

Ergebnisse

Die Projektziele, das heißt die erstmalige direkte Quantifizierung von Wanderkorridoren auf naturnahen unstrukturierten Sohlengleiten und die Ermittlung der hydraulischen Gegebenheiten entlang dieser Pfade, konnten somit erreicht werden. In Zusammenarbeit mit dem Projektpartner Leineverband als Vertreter der Ingenieurpraxis, wurde die Sohlengleite in der Ilme in einer bislang einzigarten Aktion temporär trockengelegt und detailliert vermessen. Das erstellte dreidimensionale Geländemodell in hoher Genauigkeit diente als Grundlage für die weiteren Untersuchungen. Zur Durchführung der umfangreichen Laboruntersuchungen unter kontrollierten Bedingungen stellte der Projektpartner Vattenfall Research and Development AB sein Wasserbaulabor in Älvkarleby, Schweden, zur Verfügung. Im Laxelerator wurde das 1:1-Modell der Ilme-Sohlengleite eingebaut und detaillierte kamerabasierte Fischbeobachtungen sowie hydraulische Messungen unter verschiedenen Randbedingungen durchgeführt. Auf Grundlage der Erfahrungen in den Laboruntersuchungen konnte das Versuchsprogramm schließlich in Felduntersuchungen an der Ilme wiederholt und der einmalige Datensatz vervollständigt werden.
Sowohl Fischtrajektorien verschiedener Arten und Größen- bzw. Leistungsklassen als auch lokale und globale Strömungsbedingungen wurden im Labor wie in der Natur in Abhängigkeit des Abflusses und der Sohlentopgraphie dokumentiert, was wiederum die Identifizierung und Quantifizierung von Wanderkorridoren von aufsteigenden Fischen ermöglichte. Die Arbeit erlaubte außerdem erstmals einen direkten Vergleich von Labor- und Naturuntersuchungen auf einer naturnahen Sohlengleite.
Die Projektergebnisse flossen in die Dissertationsschrift von Herrn Ralph Eikenberg mit dem Titel „Verknüpfung von Strömungsfeld, Sohlengeometrie und Fischtrajektorien auf unstrukturierten Sohlengleiten“ ein (in Vorbereitung).

Öffentlichkeitsarbeit

Während der Projektlaufzeit wurde die Tätigkeiten und erzielten Ergebnisse über vielfältige Kanäle der interessierten (Fach-)Öffentlichkeit präsentiert. Dazu gehören sechs Konferenzbeiträge auf nationalen und internationalen Veranstaltungen sowie diverse Fachvorträge und informelle Treffen mit Akteuren aus der Praxis. Das Projekt wurde außerdem in den entsprechenden Lehrveranstaltungen im Bau- und Umweltingenieurwesen an der TU Braunschweig vorgestellt.

Fazit

Aus der Analyse der umfassenden Daten der hydraulischen Gegebenheiten entlang der von den Fischen gewählten Pfade und von Bereichen, die beim Aufstieg gemieden oder als Ruhebereich genutzt wurden, konnten wertvolle Erkenntnisse sowohl für die hydraulische als auch für die biologische Dimensionierung solcher Bauwerke gewonnen werden. Darüber hinaus lieferte der Vergleich der Ergebnisse aus den Labor- und den Felduntersuchungen einen wichtigen Beitrag zur bislang mehrheitlich auf Laboruntersuchungen beschränkten Ethohydraulik. Nicht zuletzt zeigen die Projektergebnisse die besondere Eignung unstrukturierter Sohlengleiten als Habitat. Die Daten stehen der wissenschaftlichen Fachwelt frei zur Verfügung.

MigRamp-Projekt

Übersicht

Fördersumme

216.876,00 €

Förderzeitraum

01.12.2020 - 31.05.2023

Bundesland

Niedersachsen

Schlagwörter

Land use
Nature Conservation
Lower Saxony
Resource conservation
Umwelttechnik