Peenemünde. „Es gab Zeiten, in denen nicht damit zu rechnen war, dass Orte mit einer militärischen Vergangenheit wie Peenemünde einmal zu ‚Denkmälern des Friedens‘ werden. Es liegt an uns, sowohl die naturschutzfachliche als auch kulturhistorische Bedeutung zu erhalten. Auf der einen Seite wollen wir das Naturerbe mit all seiner ökologischen Vielfalt und Schönheit schützen und weiterentwickeln, auf der anderen Seite wollen wir an das historische Erbe erinnern und uns damit auseinandersetzen“, mit diesen Worten begrüßte der Generalsekretär der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU), Dr. Heinrich Bottermann, gleichzeitig Geschäftsführer des DBU Naturerbes, über 70 Vertreter unterschiedlicher Fachdisziplinen. Anlässlich einer Veranstaltung zum Nationalen Naturerbe hob er hervor, dass Peenemünde wie keine andere DBU-Naturerbefläche eng mit der nationalen und internationalen Historie verknüpft ist. Bottermann: „Als Eigentümer haben wir die Verantwortung, die Bedeutung der Flächen in ihrer ganzheitlichen Betrachtung für die nachkommenden Generationen zu sichern.“
Bombardierung mit „V2“ aus Peenemünde
In dem 25 Quadratkilometer großen Rüstungskomplex Peenemünde betrieben die Nationalsozialisten ab 1936 eine Heeresversuchsanstalt (HVA), um Massenvernichtungswaffen zu entwickeln, herzustellen und zu testen, etwa die „V2“-Fernrakete. Tagungs-Referent und Antisemitismus-Experte Dr. Günther Jikeli jun. von der Indiana Universität in Bloomington/USA: „Diese in der nationalsozialistischen Propaganda ‚Vergeltungswaffen‘ genannten Flugbomben wurden von Anbeginn so konzipiert, dass sie auf größere Städte zielen sollten. Allein die V2-Raketen forderten, insbesondere in London und Antwerpen, etwa 8.000 zivile Opfer.“ Maßgeblich an der Entwicklung der Raketen beteiligt war der durch die Mondlandung der Amerikaner 1969 berühmt gewordene Raketeningenieur Wernher von Braun, der in der HVA ab 1937 als Technischer Direktor arbeitete.
Entwicklung und Erprobung forderte noch mehr Menschenopfer
Noch schwerer als die vielen zivilen Menschenopfer durch Bombardierung wiege, neben der Einbindung in das verbrecherische System der Nationalsozialisten, die Art und Weise, so Jikeli, wie diese Waffen hergestellt und erprobt wurden. Allein in Peenemünde gab es bis zu 18.000 Arbeiter, darunter viele Zwangsarbeiter, insbesondere aus Polen. Neben den Arbeitslagern für Zwangsarbeiter gab es auch zwei Konzentrationslager. Jikeli: „Die Versuchsanstalt in Peenemünde stand direkt mit der Serienproduktionsstätte der V2, dem Konzentrationslager Mittelbau-Dora (Thüringen), in Verbindung. Dort arbeiteten insgesamt etwa 60.000 Häftlinge, größtenteils an der Produktion der V2, aber auch an der V1 und anderen Waffen. Nach vorsichtigen Schätzungen kamen dabei 20.000 Häftlinge ums Leben.“ Darunter befanden sich auch viele der KZ-Häftlinge, die im Oktober 1943 von Peenemünde nach Dora deportiert wurden.
Hoher Denkmalwert, der neuartige Strategien zum Umgang erfordere
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Fläche in Peenemünde von den Alliierten massiv bombardiert, um die Entwicklung der Raketen zu verhindern. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs übernahm die Nationale Volksarmee bis zur Wende 1990 das Gelände. „Die Zerstörung der ausgedehnten Forschungs- und Versuchsanlagen nach dem Krieg stellt eine eigene historische Schicht dar“, so Prof. Leo Schmidt vom Lehrstuhl Denkmalpflege der Brandenburgischen Technischen Universität in Cottbus. Und weiter: „Sie verwandelte Peenemünde in eine geheimnisumwitterte Ruinenstätte, die von der Natur immer weiter zurückerobert wurde.“ Aus der Verbindung von archäologischer Stätte, Ruinenlandschaft und Naturschutzgebiet ergebe sich demnach heute ein eigener hoher Denkmalwert, der neuartige und kreative Strategien des Umgangs und der Vermittlung erfordere.
„Denkmäler des Friedens“ durch Wiedervereinigung und stabile EU
Heute erinnert das Historisch-Technische Museum Peenemünde, in dem die Veranstaltung stattfand, an die historische Vergangenheit, sagte Museums-Geschäftsführer Michael Gericke. Dass die Flächen heute nicht mehr militärisch genutzt werden, sondern dauerhaft für den Naturschutz gesichert und für nachfolgende Generationen als Orte der biologischen Vielfalt erhalten werden können, sei, so Bottermann, maßgeblich dem Friedensprozess der letzten Jahrzehnte zu verdanken. Ohne die friedliche Wiedervereinigung, aber auch ohne die Bildung einer stabilen und die Staaten Europas vereinigenden Europäischen Union sei der nun schon über 70 Jahre währende Frieden nicht realisierbar gewesen. „Durch diese Stabilisierung des Friedens wurden aber auch zum Beispiel Truppenübungsplätze nicht mehr gebraucht und konnten der Natur zurückgegeben werden“, sagte der DBU-Generalsekretär. Die Naturerbeflächen seien damit auch "Denkmäler des Friedens". Die Veranstaltung solle als Beginn einer Auseinandersetzung mit der kulturhistorischen Vergangenheit der Flächen verstanden werden.
Interdisziplinärer Ansatz für alle Nationalen Naturerbeflächen
Dr. Nils M. Franke vom Wissenschaftlichen Büro Leipzig weitete die Herausforderung, der sich die DBU stellt, bei der Veranstaltung auf das gesamte Naturerbe aus: „Die Flächen des Nationalen Naturerbes haben oft eine sehr komplexe Geschichte. Um ihr gerecht zu werden, ist ein interdisziplinärer Ansatz notwendig. Aus meiner Erfahrung sind insbesondere die Perspektiven des Naturschutzes, des Denkmalschutzes, der Geschichtswissenschaft und der politischen Bildung zu berücksichtigen. Nur in der wissenschaftlichen Zusammenführung entsprechender Erkenntnisse erreichen wir in der Gegenwart einen angemessenen Umgang mit dem Nationalen Naturerbe.“ Rund 156.000 Hektar wertvoller Naturflächen im Eigentum des Bundes wurden nicht privatisiert, sondern durch die Koalitionsverträge 2005, 2009 und 2013 neben der DBU-Tochter an Bundesländer oder von diesen benannte Naturschutzorganisationen übertragen, um sie dauerhaft für den Naturschutz zu sichern.
Gemeinschaftliches und partnerschaftliches Engagement unerlässlich
Die DBU verwaltet treuhänderisch durch ihre gemeinnützige Tochter, das DBU Naturerbe, rund 69.000 Hektar Fläche, verteilt auf 70 großräumige Liegenschaften in Deutschland. Alle Flächen gehören dem Nationalen Naturerbe an und stammen vom Bund. Das Ziel der Übertragung der Flächen ist es, sie dauerhaft für den Naturschutz zu sichern und für nachfolgende Generationen als Orte der biologischen Vielfalt zu erhalten. Es handelt sich größtenteils um ehemals militärisch genutzte Gebiete. Diese ehemalige Nutzung bedeutet für die DBU eine besondere Verpflichtung, aber auch eine besondere Herausforderung. „Viele der Flächen haben eine aus heutiger Sicht ,belastete‘ Historie“, machte Prof. Dr. Werner Wahmhoff, stellvertretender Generalsekretär der DBU und fachlicher Leiter sowie Prokurist des DBU Naturerbes, bei der Exkursion zum Prüfstand VII deutlich. Eine Auseinandersetzung mit den Flächen könne daher nicht unreflektiert geschehen. „Das Beispiel Peenemünde zeigt anschaulich, dass für eine dauerhafte Sicherung der Naturerbeflächen sowohl eine naturschutzfachliche, als auch eine kulturhistorische Betrachtung unerlässlich ist. Nur durch ein gemeinschaftliches und partnerschaftliches Engagement der unterschiedlichen Disziplinen ist ein Erhalt der Naturerbeflächen als ‚Denkmäler des Friedens‘ möglich“.
Naturschutzfachlichen Wert für kommende Generationen sichern
Trotz der Eingriffe in die Natur durch die militärische Nutzung blieb auf der DBU-Naturerbefläche Peenemünde ein großer Teil der wertvollen, auf alten Strandwällen und Dünentälern stockenden Wälder erhalten: alte Eichen- und Buchenwälder, Kieferwälder auf Dünen, nasse Erlen- und Moorbirkenbrüche. In wenigen Fällen entwickelte sich durch die militärische Nutzung die Natur: Wenn etwa Panzer den Boden derartig verdichteten, dass sich kurzzeitig kleine Tümpel bildeten, in denen sich etwa der Laich der seltenen Gelbbauchunke entwickeln konnte. Entsprechend entstanden in Bombenkratern und Geländesenken Klein- und Moorgewässer. Brackwasser-Röhrichte, kleine Sandinseln, See- und Salzgraswiesen dienen vielen Wasservögeln als wichtiger Rast-, Mauser- und Nahrungsplatz.